Eindrücke von der Stuttgarter Kundgebung gegen den Krieg in der Ukraine

Plötzlich dazwischen

Es war der erste schöne Frühlingstag. Am vergangenen Sonntag machte ich mich um elf Uhr auf in den Oberen Schlossgarten. Wir hatten in der Stuttgarter Parteiorganisation lange überlegt, wie wir uns zu dieser Kundgebung verhalten sollten. Es war klar, wir können nicht einfach hingehen, ohne uns zu positionieren. Wegbleiben fanden wir auch schwierig, da die Gewerkschaften und weitere enge Bündnispartner zu den Aufrufern gehörten. Den Zusammenschluss der Friedensgruppen in Baden-Württemberg, das Friedensnetz, hatte die Veranstalter allerdings vergessen zu fragen.

Wir hatten neben einem Transparent ein Flugblatt dabei, in dem wir uns kritisch mit den Forderungen des Aufrufs auseinandersetzen: „Wer Frieden will, liefert keine Waffen! Wer Frieden will, verhängt keine völkerrechtswidrigen Sanktionen!“ Unklar war, welcher Wind uns mit diesen Positionen entgegenschlagen würde.

Am Treffpunkt waren schon die ersten Genossen, die Genossinnen aus Tübingen stießen kurze Zeit später zu uns. Auch die Heidenheimer waren gekommen. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg zur Kundgebung. Das Flyer-Verteilen lief gut, die befürchteten Anfeindungen blieben aus.

Viele ältere Menschen, aber vor allem Familien mit Kindern füllten den Platz, viele in den Farben der Ukraine oder mit selbstgebastelten Schildern. Daneben prägten Pace-Farben den Platz. Rot war nur vereinzelt zu sehen. Bei der Begrüßung wurde die Orientierung für die Veranstaltung ausgegeben: Es hätte in den letzten Jahren so viele Fortschritte gegeben, in der Technik, bei den Medien und im Sozialen, und jetzt dieser Rückfall. Von der Bühne war also vor allem linksliberale Formierung zu erwarten. Der erste Redner, der diese Aufgabe erfüllte, war Kai Burmeister, Vorsitzender des DGB Baden-Württemberg. Die Aufrüstungspläne kritisierte er zwar, bleibt dann aber auf Linie: Putin führe Krieg, der demokratische Westen helfe der demokratischen Ukraine. Dann wurde es emotional. Die Ukrainerin Julia Melnyk berichtete von den Schrecken eines Krieges. Sie habe Kontakt mit ihren Verwandten in Charkow und mache sich große Sorgen. Sie habe gehört, dass ein Bekannter dort erschossen wurde. Er sei aus seinem Versteck gekommen, um für seine schwangere Frau Lebensmittel einzukaufen. „Dann haben die ihn erschossen!“ Nur wenige auf dem Platz stellten sich die Frage, wer denn nun „die“ sind.

Jürgen Grässlin sprach für die DVG-VK. Er erinnerte an den NATO-Krieg gegen Jugoslawien, sprach sich aber für Sanktionen aus, die die Herrschenden treffen. Dass es die nach den Erfahrungen mit der imperialistischen Sanktionspolitik nicht gibt und selbst wenn, sie auch völkerrechtswidrig sind, hat er ausgeblendet. Er spricht sich klar gegen Waffenlieferungen und das deutsche Hochrüstungsprogramm aus – die Applaudierenden halbiert sich. Erfreut stellte ich fest, dass die knappe Hälfte der Anwesenden zwar mit dem „Wir-sind-die-Guten-Virus“ infiziert sind, aber noch nicht am NATO-Taumel erkrankt sind. Die andere Hälfte hat sich natürlich nicht körperlich halbiert, sondern zeigte die bewusstseinsspaltenden Tendenzen der grassierenden Erkrankung: Frieden sagen und Krieg meinen.

Das nutzte dann auch ein „ukrainischer Freund“, wie er fortan von der Moderation genannt wurde, dazu, mit seinem Fähnchen die Bühne zu erstürmen und lauthals nach Waffen und Flugverbotszone zu krakeelen. Als neugieriger UZ-Reporter machte ich mich auf den Weg vor die Bühne. Dort diskutierte inzwischen die Polizei mit einer Gruppe mit blau-gelber Kriegsausstattung. Vor dem Absperrgitter suchte ein Stuttgarter Gewerkschafter nach Verstärkung für die Ordner. Kurz darauf stand ich mit Ordnerbinde zwischen etwa zehn Ukrainern und der Bühne. Von unten wurden Waffen und Flugverbotszonen gefordert. Zur Abwechslung dann „Slawa Ukrajini“ (Ruhm der Ukraine) skandiert.

Neben mir in der Ordnerkette stand ein türkischer Kollege. Der hatte schnell erkannt, wer uns da blau-gelb-gewandet gegenübersteht. Als die Lage übersichtlicher wurde, konnten wir dann auch hören, was von der Bühne verkündet wurde. Fortsetzen durfte die Anti-Putin-Tiraden eine, die sich auskennt: eine echte Russin. Die habe die beste Rede des Tages gehalten, fanden die „ukrainischen Freunde“. Ich war froh gehen zu können.

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Über den Autor

Björn Blach, geboren 1976, ist als freier Mitarbeiter seit 2019 für die Rubrik Theorie und Geschichte zuständig. Er gehörte 1997 zu den Absolventen der ersten, zwei-wöchigen Grundlagenschulung der DKP nach der Konterrevolution. In der Bundesgeschäftsführung der SDAJ leitete er die Bildungsarbeit. 2015 wurde er zum Bezirksvorsitzenden der DKP in Baden-Württemberg gewählt.

Hauptberuflich arbeitet er als Sozialpädagoge in der stationären Jugendhilfe.

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"Plötzlich dazwischen", UZ vom 18. März 2022



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