Der Streik beim Lieferdienst „Gorillas“ macht die Arbeitsbedingungen in der Branche öffentlich

So mies wie bei anderen

Drei Tage lang streikten die Beschäftigten des Lieferservice „Gorillas“ in Berlin letzte Woche „wild“ (siehe UZ vom 18. Juni). Orry Mittenmayer, Aktivist der Kampagne „Liefern am Limit“ und Student der Politikwissenschaften in Marburg, kennt die Bedingungen der Branche genau. UZ sprach mit ihm über schwierige Bedingungen gewerkschaftlicher Organisation, die Tricks, mit denen Unternehmen Betriebsratsgründungen zu verhindern suchen, und erste Erfolge von „Liefern am Limit“.

UZ: Die Unternehmen dieser Branche geben sich gerne ein hippes, modernes und „digitales“ Image. Der Geschäftsführer von „Gorillas“ sieht sein Unternehmen gar als eine „Bewegung“ begeisterter Fahrradfahrer. Wie sehen die Arbeitsbedingungen der Kollegen bei „Gorillas“ tatsächlich aus?

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Orry Mittenmayer

Orry Mittenmayer: Nach dem, was „Gorillas“-Rider mir erzählt haben, sind die Bedingungen genau so mies wie bei anderen Lieferdiensten. Es ist mittlerweile ja eine Binsenweisheit: Bietet ein Unternehmen an, Essen in unter zehn Minuten zu liefern, kann man mit großer Sicherheit sagen, dass das auf Kosten der Gesundheit und Sicherheit von Fahrerinnen und Fahrern passiert.

Details habe ich nicht parat, weil wir noch nicht direkt bei „Gorillas“ involviert sind. Wir stehen in Kontakt und unterstützen die Arbeitskämpfe dort, wollen uns aber nicht nach vorne drängeln. „Liefern am Limit“ und NGG solidarisieren sich natürlich mit den Beschäftigen von „Gorillas“.

UZ: Auf welche Schwierigkeiten stoßt ihr bei der gewerkschaftlichen Organisierung in solchen Betrieben?

Orry Mittenmayer: Man muss sich vor Augen führen, wie die Arbeitsbedingungen in solchen Betrieben aussehen. Fast alle Lieferdienste bieten nur befristete Verträge an. Das ist ein bequemes, fast schon grausam effizientes Instrument für Arbeitgeber, die Belegschaften auszutauschen. In dem Moment, wo wir ganz viele Rider organisiert haben, tauschen die Lieferdienste ihre Beschäftigten einfach aus. So lief das bei „Lieferando“ und „Deliveroo“. Diese große Fluktuation ist immer wieder eine große Hürde. Deshalb kämpfen wir nicht nur auf Basisebene, sondern gleichzeitig auf bundespolitischer Ebene für ein Verbot sachgrundlos befristeter Arbeitsverträge. Die sind nämlich der Knackpunkt.

UZ: Bei „Gorillas“ wie auch bei anderen Betrieben der Branche sind sehr überwiegend Migranten beschäftigt. Ist das Kalkül?

Orry Mittenmayer: Für mich ist das auf jeden Fall Kalkül. Natürlich werden diese Unternehmen das niemals offen sagen. Migrantisch markierte Menschen werden gezielt angeworben. 2015 zum Beispiel gab es viele Rider, die nach Deutschland geflüchtet waren und unbedingt einen Job brauchten. Die waren bereit, jede Form von Arbeit anzunehmen. Das wissen solche Unternehmen ganz genau. Genauso wissen sie, dass viele Fahrer Studierende sind, die einen Nebenjob machen. Das ist nur ein Teil der Wahrheit. In Frankfurt am Main beispielsweise arbeiten viele Fahrer aus Indien, die gleichzeitig studieren. Die machen den Job, weil ihre Aufenthaltserlaubnis daran geknüpft ist. Das ist ein riesengroßes Problem.

UZ: Bei „Gorillas“ waren die Beschäftigten in der letzten Woche drei Tage lang in einem „wilden“ Streik. Was meinst du dazu?

Orry Mittenmayer: Ich freue mich immer, wenn Kolleginnen und Kollegen sich organisieren. Noch mehr würde ich mich freuen, wenn die sich auch gewerkschaftlich organisieren.

Da sind Gewerkschaften in der Verantwortung. Wir müssen attraktiver werden für Menschen, die die Vorteile einer Gewerkschaftsmitgliedschaft noch nicht erkannt haben. Das erinnert mich an meine eigene Biografie. Vor ein paar Jahren hatte ich nichts mit Gewerkschaften zu tun. Für mich waren das Institutionen, deren Reihen von weißen Menschen gefüllt waren und die kein Interesse daran hatten, Schwarze oder marginalisierte Menschen zu repräsentieren.

Wir als Gewerkschafter müssen immer zeigen, dass es sich lohnt, bei uns einzutreten, dass wir kämpferisch sind und dass die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter bei uns an allererster Stelle stehen. Gerade die Basismitglieder entscheiden, wohin die Gewerkschaften gehen, was sie tun und wie wir unsere Arbeitskämpfe führen.

Und seien wir mal ehrlich: Dass die „Gorillas“ trotzdem streiken, erfordert eine Menge Mut. Es zeigt, dass sie eine sehr kämpferische Truppe sind. Und entzaubert den Mythos, den Beschäftigten von Start-ups ginge es gut. Dafür bin ich sehr dankbar.

UZ: Vor drei Wochen organisierten „Gorillas“-Beschäftigte in Berlin eine Betriebsversammlung mit dem Ziel, einen Betriebsrat zu gründen. Hast du das mitverfolgt?

Orry Mittenmayer: Persönlich nicht. Aber ich bin mit einigen Beschäftigen von „Gorillas“ in Kontakt. Was die erzählt haben, erinnert mich an viele Situationen, die ich bei „Lieferando“ und „Deliveroo“ erlebt habe. Die Betriebsratsgründung dort war kein Spaziergang, und das wird sie auch bei „Gorillas“ nicht sein.

UZ: Mit welchen Tricks arbeiten solche Unternehmen, um die Gründung eines Betriebsrates zu verhindern?

Orry Mittenmayer: Da gibt es keine Grenzen. Das Spektrum beginnt bei „das Hygienekonzept für die Betriebsversammlung ist nicht gut genug“, man müsse bessere Konzepte entwerfen. Bei „Deliveroo“ hat man das auch gemacht, obwohl es Corona damals noch gar nicht gab. Und man hatte versucht, uns an einen Ort zu schicken, der für uns kaum zu erreichen gewesen wäre.

Es gibt viele Möglichkeiten, die alle illegal sind. Gerade in der Start-up-Szene wird der Versuch zu verhindern, dass Betriebsräte organisiert, etabliert und durchgesetzt werden, als eine Art Kavaliersdelikt wahrgenommen. Denen ist bewusst und scheißegal, dass das eine Straftat ist, die mit Freiheitsstrafe geahndet werden kann. Wir hatten damals einen Aktivisten bei uns, der mitten in der Nacht vom CEO angerufen und bedroht wurde. Es gibt Geschichten von Managern, die mit zehn Anwälten in ein Zimmer kommen, um angehende Betriebsräte einzuschüchtern und dazu zu bewegen, Aufhebungsverträge zu unterschreiben.

Union Busting hat viele Facetten. Es ist wichtig, dass wir als Gewerkschaften ganz klar Paroli bieten.

UZ: Du bist seit mehreren Jahren gewerkschaftlich aktiv. Würdest du sagen, dass sich die gewerkschaftliche Basis in solchen Betrieben langsam verbreitert und dass eure Kampagne Erfolge zeigt?

Orry Mittenmayer: Ja. Wir konnten demokratische Mitbestimmung einführen in Betrieben, von denen wirklich alle aus allen Richtungen – Politik, Gewerkschaften und Zivilgesellschaft – gesagt haben, dort sei das unmöglich. Das ist für uns ein riesengroßer Fortschritt und Erfolg. Dadurch haben wir auch politische Aufmerksamkeit bekommen. Wir tauschen uns regelmäßig mit dem Gesetzgeber aus und empfehlen Maßnahmen, die Situation zu verbessern. Vorher war das ja komplett brutal. Ohne Betriebsräte bei „Lieferando“, „Foodora“ und „Deliveroo“ hätten die uns noch viel schlimmere Maßnahmen reingehauen.

Die Betriebsräte sind oft die einzige Verteidigungslinie innerhalb der unternehmerischen Strukturen. Das wird auch bei „Gorillas“ so sein.

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"So mies wie bei anderen", UZ vom 25. Juni 2021



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