Bemerkungen zu linker Herrschaftskritik • Ein Gespräch mit Marlon Grohn

Sozialismus ohne Fischen und Kritik

Tim Meier

Als letzter Programmpunkt im Rosa-Luxemburg-Zelt auf dem UZ-Pressefest fand Marlon Grohns eigentlich schon für 2020 vorgesehene Lesung aus seinem Buch „Kommunismus für Erwachsene: Linkes Bewusstsein und die Wirklichkeit des Sozialismus“ (siehe UZ vom 14. Februar 2020) statt. Grohn las aus dem zweiten Teil des Buches über linke Herrschaftskritik und legte dabei in pointierten Anmerkungen deren Fehler dar. Im Gespräch mit UZ führt er seine Analyse weiter aus.

UZ: Bedeutet für dich Herrschaft, egal wie, eigentlich auch immer Arbeitsteilung? Schließlich beziehen sich nicht wenige Herrschaftskritiker auf Marx, wenn sie verkünden: „Im Kommunismus werde ich morgens backen, mittags auf der Baustelle helfen und abends Philosophie betreiben.“

Marlon Grohn: Herrschaft ist nicht auf Arbeitsteilung angewiesen. Die Arbeitsteilung wird wohl historisch eher die Möglichkeit gewesen sein, sich zum Beispiel von der direkten Herrschaft der Leibeigenschaft hin zu vermittelterer Herrschaft, freierer Arbeit, mehr Selbstständigkeit fortzuentwickeln. Nicht die Arbeitsteilung ermöglicht die Herrschaft, sondern die Herrschaft des Kapitals erzeugt eine bestimmte, dem Profitzwang unterworfene Arbeitsteilung.

UZ: Inwiefern spiegelt sich das in der konkreten Arbeitswelt wider?

Marlon Grohn: Die schlecht bezahlten Bullshit-Jobs heute sind Folge jener spezifischen kapitalistischen Arbeitsteilung, die alle unangenehme körperliche oder geistig abstumpfende Arbeit nach unten hin abschiebt. Oben sitzen die Herren, freuen sich, dass sie keine Knechte sind, doch stumpfen genauso ab, weil sie nur noch die Dreckarbeit der anderen kontrollieren und kommandieren, aber das dann Arbeit nennen. Sozialismus dagegen bedeutet die Befreiung der Arbeit aus der Idiotie der Profitmacherei. Dazu ist aber eine Herrschaft nötig. Nämlich die derer, die ein Interesse daran haben, nicht mehr so arbeiten zu müssen.

UZ: In deinem Buch sprichst du von „fragmentiertem Bewusstsein“, das – neben der „Sehnsucht nach Kindlichkeit“ – eine vernünftige, erwachsene Haltung zur Herrschaft verhindert. Wie steht dieses Bewusstsein, das ja vom bürgerlichen Sein erzeugt wird, in Zusammenhang mit der Arbeitsteilung?

Marlon Grohn: Dieses Bewusstsein ergibt sich mit dem fragmentierten Individuum, das keinen Beruf mehr hat, sondern nur noch einzelne Jobs kennt. So werden die Menschen zu bloßen Verkehrsknotenpunkten kapitalistischer Produktionserfordernisse. Das Marxsche „Jagen, fischen, kritisieren“ wurde im Zeitalter der neoliberalen Flexibilität nun als Farce verwirklicht: der Arbeitslose kann heute bis 3 Uhr nachts im Internet andere kritisieren, der freie Kritiker muss nebenbei als Fahrradbote schuften und überforderte Lehrer werden von der Krankenkasse zum Selfcare-Angelkurs geschickt, um wieder „erholt“ für die sonstige Scheiße zu sein.

UZ: Wie steht das in Bezug zur linken Herrschaftskritik?

Marlon Grohn: Linke Herrschafts- und Arbeitsteilungskritiker, die sich auf den oben genannten Marx-Satz positiv beziehen, sind von dem Flexibilisierungsstuss nicht weit entfernt. Sie feiern ja diese Arbeitsteilung. Nur, dass sie sie auf den Einzelnen abwälzen wollen: Das Individuum, das alle paar Stunden was anderes arbeiten soll, zig Berufe gleichzeitig, ist ein vollkommen zerteiltes, zerstreutes, fragmentiertes, in sich arbeitsteiliges. Es kommt überhaupt nicht mehr zu sich oder irgendeiner konsistenten Tätigkeit und verliert sich völlig in den Belanglosigkeiten einzelner Hobby-Aktivitäten.

UZ: Und wie sieht der sozialistische Gegenentwurf dazu aus?

Marlon Grohn: Der Sozialismus soll erwirken, dass tatsächlich alle, nicht mehr nur wenige Bevorzugte, sich ihren Interessen entsprechend zu einem Grad der Befähigung und tätigen, produktiven Zufriedenheit emporarbeiten, ohne dass – wie im Kapitalismus – eine immer größer werdende Klasse von völlig Unbefähigten, jedwedem Sinn und Glück Entzogenen (siehe „Bürgergeld“, schlechte Nebenjobs, unbezahlte Praktika und so weiter – dazu ein Schuhkarton als Wohnung) entsteht. Es sollte Marxisten nicht um eine allgemeine Kritik der Arbeitsteilung gehen, sondern um die Aufhebung der vertikalen Arbeitsaufteilung von fachlich zusammengehörigen Arbeitsprozessen auf mehrere Einzelne (Fließband, überhaupt der gesamte Fordismus bis hin zum heutigen im Home-Office zusammengeschusterten IT-Dreck) zum bloßen Zwecke des Profits.

UZ: Nochmal zur Herrschaft: Siehst du einen Unterschied zwischen linker und rechter „Herrschaftskritik“ – seien das Libertäre oder Freiheitskämpfer mit Wikingerromantik – und wenn nein, welche Rolle spielen dann beide innerhalb des Imperialismus?

Marlon Grohn: Wie jede bürgerliche Ideologie unterteilt sich die Herrschaftskritik in zwei Fraktionen: Den Rechten ist die Herrschaft zu links, den Linken zu rechts. Denn die Herrschaft kann es natürlich nie allen recht machen. Letztlich trainieren beide schon fleißig für die sozialistische Gesellschaft, in der dann von morgens bis abends die Partei, also die Herrschaft der Arbeiterklasse, für alles – vom Herrenmantelangebot bis zum Wetter –kritisiert, also delegitimiert wird. Wohin so was führt, konnte man im Herbst 1989 sehen.

UZ: Letzte Frage: Wie verstehen die „marxistischen“ Herrschaftskritiker deiner Meinung nach das folgende, von ihnen als Begründung ihrer Kritik oft verwendete Zitat falsch? „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“ (Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie)

Marlon Grohn: Ich frag mich, was es da falsch zu verstehen gibt. Was Marx hier sagt, bedeutet ja schlicht: Es reicht nicht, zu kritisieren – also Kritik als (intellektuelle) Waffe sei schön und gut, aber es gebe eben auch eine materielle Form von „Kritik“, die vor allem von denen, die in kapitalistischen Verhältnissen ihr Geld mit Intellektualität verdienen, gerne ignoriert wird. Das heißt, eine „praktische“ Kritik, eine, die mit wirklichen Waffen die wirklichen Verhältnisse, nicht nur die Gedanken, verändert. Diese ist die Gegengewalt, das heißt Notwehr zur bestehenden, bürgerlichen Gewalt, die niemals durch bloßes Kritisieren ersetzt werden könne.

Was Marx dann über die Massen sagt, die von der Theorie ergriffen würden: Für manche scheint es das davor Gesagte zu relativieren. Man interpretiert es dann so, als reiche ein Begreifen der kapitalistischen Misere und die Änderung komme dann quasi von allein. Das tut sie aber nicht, sondern, und darum dreht sich in der Hauptsache mein Buch: solche Änderung ist mühselig und ungemütlich. Statt der Massen, die von Theorie ergriffen werden, müsste die Klasse, die Theorie anwendet, gesetzt werden. Die Klasse wiederum braucht Repräsentanten, die diese Mühe auf sich nehmen. Letztlich läuft es so, wie es Marx zuvor in jenem Satz feststellt: Diejenige Theorie wird sich durchsetzen, die die stärksten materiellen Waffen hat. Im Moment ist das die Bourgeoisie. Aber so was kann sich ja ändern.


Marlon Grohn
Kommunismus für Erwachsene
Linkes Bewusstsein und die Wirklichkeit des Sozialismus

Das Neue Berlin, 272 Seiten, 15 Euro
Erhältlich unter uzshop.de


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"Sozialismus ohne Fischen und Kritik", UZ vom 7. Oktober 2022



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