WSI: Aktuelle Daten belegen Gewinnwachstum und Realohnverlust

Überzogene Lohnforderungen?

„Überzogene Lohnforderungen können eine gefährliche Lohn-Preis-Spirale zur Folge haben.“ Ob in der Metall- und Elektroindustrie, im öffentlichen Dienst, bei der Bahn oder der Post, in den vergangenen Monaten gab es keine Tarifrunde, in der von der Kapitalseite nicht dieses ebenso alte wie falsche neoliberale Märchen aufgewärmt wurde. Bei dem damit verfolgten Ziel, die Forderungen der Gewerkschaften nach Lohnerhöhungen zu diskreditieren, konnten sich die Unternehmerverbände stets auf die Unterstützung aus den Reihen bestimmter Teile der Politik verlassen.

Ein besonders dreistes Beispiel hierfür sind die jüngsten Äußerungen der Wirtschaftspolitischen Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Julia Klöckner. Diese warnte nicht nur vor den angeblichen Gefahren einer möglichen Lohn-Preis-Spirale, sondern behauptete auch grob faktenwidrig, dass sich im Zuge der Inflation auch die meisten Unternehmensgewinne in Luft aufgelöst hätten. Der aktuelle Europäische Tarifbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, der vergangene Woche vorgestellt wurde, hat diese abenteuerliche These mit harten Fakten widerlegt. Auf Grundlage von Daten der Europäischen Kommission und der Zentralbank konnten die Forscher des gewerkschaftsnahen Instituts aufzeigen, dass auch infolge der Inflation die Unternehmensgewinne nicht geschrumpft, sondern im Gegenteil weitergewachsen sind. Dies zeigt anschaulich, dass auch in der aktuellen Krise die Umverteilung zulasten der Löhne und zugunsten der Kapitaleinkommen weiter vorangetrieben wird.

Mehr noch: Die Profite feuern die Inflation weiter an. „Während die Inflation zunächst von höheren Importpreisen für fossile Energieträger und Nahrungsmittel getrieben wurde, tragen inzwischen steigende Unternehmensgewinne erheblich zum Preisauftrieb bei“, so analysiert das WSI die aktuelle Entwicklung. Während die Kapitalstückkosten in der EU im vergangenen Jahr um 7,0 Prozent zunahmen, betrug der Anstieg der Lohnstückkosten hingegen gerade einmal 3,3 Prozent. Eine Ursache hierfür sei, dass Unternehmen ihre Preise stärker angehoben haben, als dies aufgrund gestiegener Kosten eigentlich notwendig gewesen wäre, so die Wissenschaftler. Das begünstigt Effekte, die vom WSI zutreffend als Gewinninflation bezeichnet werden.

Während zahlreiche Unternehmen von Inflation und Krise profitieren, sind die Lohnabhängigen die Verlierer. In 26 von 27 Mitgliedstaaten sind die Reallöhne im vergangenen Jahr gesunken, im Durchschnitt um 4 Prozent. Besonders hohe Kaufkraftverluste mussten die Beschäftigten in Estland (9,3 Prozent), Griechenland (8,2 Prozent) und Tschechien (8,1 Prozent) hinnehmen. Hierzulande gingen die Reallöhne im vergangenen Jahr um 4,1 Prozent zurück und werden voraussichtlich um weitere 1,3 Prozent in diesem Jahr sinken.

Angesichts der in Relation zu den Preissteigerungen geringen tariflichen Lohnsteigerungen verwundert das nicht. Nach Zahlen der Europäischen Kommission stiegen die Tariflöhne im Jahr 2022 in der Euro-Zone gerade einmal um 2,8 Prozent. Im Vorjahr lag der Wert bei 1,5 Prozent. Die Lohnzuwächse lagen damit wieder unterhalb der vom WSI bezeichneten „Schwelle für eine stabilitätskonforme Lohnpolitik“, die aktuell mit 3 Prozent angegeben wird. Dieser Wert ergibt sich – so die Ökonomen – aus einem Trendwachstum der Produktivität von 1 Prozent und dem Inflationsziel der EZB von 2 Prozent. Die Steigerung der Tariflöhne in Deutschland entspricht mit 2,7 Prozent im Jahr 2022 dem EU-Durchschnitt. Ein Trend, der sich nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes auch zum Jahresanfang fortgesetzt hat.

Infolge dieses Ungleichgewichts zwischen Lohn- und Gewinnentwicklung ist auch der Anteil der Löhne am Volkseinkommen spürbar – um zwei Prozentpunkte seit 2020 – zurückgegangen. Angesichts dieser Zahlen erweist sich die weitverbreitete Behauptung von „völlig überzogenen Lohnforderungen“ und das Märchen von der Lohn-Preis-Spirale als reine Propaganda. Mehr noch: Eine offensive Tarifpolitik, die eine Umverteilung des gesellschaftlich geschaffenen und privat angeeigneten Reichtums zum Ziel hat und über eine reine „stabilitätskonforme Lohnpolitik“ hinausgeht, wäre ein äußerst wirkungsvolles Instrument zur Überwindung von Krise und Inflation.

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"Überzogene Lohnforderungen?", UZ vom 14. Juli 2023



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