Trotzdem aufrecht links ins Jahr 2023

Von wegen fröhliche!

09 Kolumne koenig hartmut 1331 - Von wegen fröhliche! - Jahresrückblick - Positionen
Hartmut König

Gleich ist Weihnachten, und mein erstes Kolumnenjahr in der UZ ist rum. „Oh du fröhliche“ säuselt es aus kriselnden Warenhäusern und verschämt beleuchteten Christmärkten. Aber wer singt das heute im Hochgefühl mit? Die den Groschen dreimal wenden müssen, bevor sie ihn ausgeben, bestimmt nicht. Dafür die Kriegsgewinnler im Energie- oder Rüstungssektor und an ihrer Seite die im Kalten Krieg heiß gelaufenen transatlantischen Strategen, die beglückt ihre antirussische Fallenstellerei auskosten. Sie fühlen sich dem nie verlorenen Ziel näher, der Welt ihren als sakrosankt erklärten „westlichen Wertekanon“ überzustülpen. Der Geschichtsbewusste schaudert, wenn er sich solche „Werte“ ins Gedächtnis ruft: Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Genschädigende Entlaubungsgifte auf vietnamesische Landschaften. Sturz frei gewählter Staatenlenker wie Mossadegh (Iran), Árbenz (Guatemala), Lumumba (Kongo), Goulart (Brasilien), Jagan (Guyana), Bosch (Dominikanische Republik), Allende (Chile), Morales (Bolivien), um in neokolonialistischer Absicht nationale und soziale Emanzipationsbestrebungen abzuwürgen. Aus geostrategischem Kalkül auch die Verwüstung Iraks wie die nachfolgende Destabilisierung des Nahen Ostens. In dieser Blutspur geheime US-Folterstätten in verschiedenen Ländern der „Allianz der Willigen“, die sadistischen Höllen im US-Stützpunkt Guantánamo oder im Besatzerknast Abu Ghraib. Auf dem Balkan Bomben gegen Jugoslawien, das der Zangengeburt des Staates Kosovo im Wege stand. Der US-Einmarsch im kleinen, von Maurice Bishop aufgeweckten Grenada. Die gescheiterte US-Invasion in Kuba samt hundertfachem Mordversuch an Fidel Castro und einer nun Jahrzehnte währenden inhumanen Blockade. Die Liste solcher Schurkenstücke ist um ein Vielfaches länger und Washington unleugbar deren Spiritus rector. Aber auch die Staaten des „Wertewestens“ schleppen dieses bleierne Gepäck durch die Geschichte. Sie haben es sich von dem narzisstischen Bag-Packer aus „Gottes eigenem Land“ in nahezu widerspruchsloser Vasallentreue aufbürden lassen.

Nicht anders verhält es sich beim Krieg in der Ukraine, einem Stellvertreterkrieg, den die NATO in einem lange geplanten Vorkrieg an die russischen Grenzen lenkte. Das Waffenklirren ist eine Tragödie nicht allein für die betroffenen (und das sind mehr als die kriegführenden) Länder. Es birgt die Gefahr eines Weltkrieges im Zeitalter atomarer Raketenarsenale. Zudem zwingt der ideologisch aufgeheizte Boykottwahnsinn die deutsche wie andere Volkswirtschaften an nie gekannte Abgründe und die einfachen Leute in ein spürbar ärmeres Leben. In Deutschland hatte die Inflationsrate schon im Oktober die 10-Prozent-Marke überschritten. Bei sinkender Kaufkraft nehmen die Insolvenzen zu, während der Kriegsgewinnler USA mit niedrigen Energiekosten und egoistischen Förderprogrammen ausländischen Unternehmen Anreize zur Verlagerung ihrer Produktion nach Übersee bietet. Seit Anfang des Jahres verzeichnen die Tafeln in Deutschland einen Bedarfsanstieg von 50 Prozent. Hilfswerke beklagen unter den Dauerkunden die so hohe Anzahl von Kindern. Containern bleibt verboten, obwohl jährlich elf Millionen Tonnen oft noch verzehrbarer Lebensmittel vernichtet werden. Gauck gibt Lektionen im Frieren, Habeck braucht Nachhilfe in puncto profitabler Netzwerke von Energiegiganten am deutschen Markt und Baerbock behauptet eine regelbasierte feministische Außenpolitik, wo doch allein das Schicksal des von ihr im Stich gelassenen Aufklärers Assange eine menschliche anmahnt. Ist es nicht zum Verzweifeln?

Lasst uns vor das Verzweifeln den Zweifel setzen! Den Zweifel, dass die Welt in dieser Misere ihren endgültigen Zustand gefunden hat. So kann und wird es nicht bleiben. Ich will von meiner Hoffnung nicht lassen. Warten wir die Zukunft ab! Links eingereiht. Die Hände aus den Taschen und das Gehirn eingeschaltet.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Von wegen fröhliche!", UZ vom 2. Dezember 2022



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Herz.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit