Gefangen in Propaganda: Anthony McCartens „Going Zero“

Wie man vom Erdboden verschwindet

Unauffällig ist das Piepsen, mit dem das Handy der Bibliothekarin Kaitlyn Day den Eingang einer Textnachricht ankündigt. In ihr steht „Go zero!“. Kaitlyn liest die Nachricht, schaltet das Handy aus, nimmt ihren gepackten Rucksack und – verschwindet.

Mit Kaitlyn verschwinden neun weitere Menschen von der Bildfläche. Sie alle sind auserwählt worden, an einem Experiment des als „Wunderkind des Silicon Valley“ gehandelten Social-Media-Moguls Cy Baxter teilzunehmen. Schaffen sie es, 30 Tage unentdeckt zu bleiben, winken ihnen 3 Millionen Dollar Preisgeld. Was wie ein Spiel mit hohen Gewinnmöglichkeiten anmutet, ist in Wahrheit bitterer Ernst. Denn gemeinsam mit Cy Baxter will die CIA im Namen der „nationalen Sicherheit“ ein allumfassendes Überwachungssystem dem Praxistest unterziehen.

Anthony McCarten hat sich in seinem jüngsten Roman der Überwachungsmaschinerie angenommen, die man Internet nennt. Wie kann man sich unsichtbar machen, wenn man nicht mehr mit Bargeld zahlt, sondern mit Apple- oder Google-Pay, wenn das Handy gleichzeitig die U-Bahn-Fahrkarte ist und fast jeder Quadratmeter einer Stadt von irgendeiner Sicherheitskamera gefilmt wird? Egal wohin sich die zehn Probanden – fünf Profis aus dem Umfeld von Militär und Geheimdienst und fünf absolute Laien – wenden, immer findet das Team von Baxter eine Kamera, die ihre Daten via Internet überträgt und in deren Übertragung sie sich hacken können, oder eine andere Spur, die ihre Aufenthaltsorte ans Internet verraten, auch wenn sie sich eigentlich fernhalten.

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Baxter tobt derweil bei der Verfolgung der Kandidaten durch seine gläserne Firmenzentrale, als ginge es um Leben und Tod – und für ihn mag das auch so sein. Denn wenn es ihm gelingt, alle zehn Kandidaten innerhalb der 30-Tage-Frist wieder einzufangen, wird seine Firma in Zukunft Geheimdienste dabei unterstützen, Täter schon vor dem Begehen ihrer Vergehen ausfindig zu machen – ein Auftrag im Wert von 90 Millionen US-Dollar.

Und so werden die geheimsten Geheimnisse aus der Vergangenheit der Probanden ausgeforscht, die so geheim dann doch nicht zu sein scheinen, und einer nach dem anderen wird in teilweise mehr, teilweise weniger absonderlichen Verstecken gefunden. Gewohnheiten und Vorlieben werden dabei zu Fallstricken. Da hätte der eine Kandidat mal lieber nicht ein Bier seiner Lieblingsmarke gekauft, während der andere besser keinen Kühlschrank mit in sein Versteck genommen hätte …
Einzig Kaitlyn bleibt unauffindbar. Und langsam dämmert es Baxter, dass der Anschein einer unbedarften Bibliothekarin vielleicht doch nur eine Fassade ist, hinter der sich eine nicht ganz ungefährliche Gegnerin verbirgt.

Ob Anthony McCarten beim Schreiben ein Politthriller vorgeschwebt ist, weiß man nicht. Geschrieben hat er ein unterhaltsames Buch über eine Hetzjagd, die unbedarften Leserinnen und Lesern einen kleinen Schauer über den Rücken jagen dürfte beim Gedanken daran, wie oft sie schon Cookies akzeptiert haben oder aus Langeweile einen Persönlichkeitstest bei Instagram mitgemacht haben. Garniert hat er das Ganze mit Andeutungen über Verbrechen der US-Geheimdienste in aller Welt. Unfreiwillig komisch ist der Roman aber auch. Denn natürlich muss es bei aller Kritik an der Überwachung des Internets, den Handlungsspielräumen der Geheimdienste und der Dauerüberwachung US-amerikanischer Städte immer noch einen geben, der schlimmer ist. Und das ist natürlich der Chinese. Wer sonst.

Anthony McCarten
Going Zero
Diogenes, 454 Seiten, 25 Euro

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"Wie man vom Erdboden verschwindet", UZ vom 29. September 2023



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