Monopole erhalten Vorrang bei Gaslieferungen

Wirtschaft sorgt sich

„Ich hätte mich ja hinten in der Schlange eingereiht. Da stand aber schon jemand.“ Nach diesem Prinzip agiert die deutsche Industrie angesichts des drohenden Gasmangels. Die europäische Notfallverordnung Gas sieht eigentlich vor, dass kritische Infrastruktur wie zum Beispiel Krankenhäuser und Privathaushalte in der Versorgung gegenüber Industrie und Wirtschaft priorisiert sind. Angesichts zunehmender Verknappung sind die Monopole jedoch keineswegs bereit, sich „hinten anzustellen“. Die Priorisierung zugunsten von privaten Verbrauchern müsse dringend geändert werden, betonte der Präsident des Unternehmerverbandes Gesamtmetall, Stefan Wolf, in der vergangenen Woche gegenüber den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. „Industriebetriebe müssen während einer etwaigen Alarmstufe vorrangig Gas erhalten, wenn ihr Bestand oder ihre Produktionsanlagen akut gefährdet sind oder sich infolge der Lieferketten massive Produktionsausfälle über den Betrieb hinaus ergeben würden“, so Wolf.

Der jüngste Vorstoß der chemischen Industrie geht in die gleiche Richtung. Bleibt es bei dem Vorrang privater Haushalte bei der Zuteilung von Gas gegenüber der Wirtschaft, wird von deren Seite unverhohlen mit Arbeitsplatzabbau gedroht. Die Sicherung der Arbeitsplätze und damit das Einkommen sei für die Familien sehr wichtig und stehe für die Gesellschaft höher als die vollständige Sicherstellung der privaten Gasversorgung, äußerte sich Christian Kullmann, Präsident des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI), in der „Süddeutschen Zeitung“.

Die Reaktion aus der Bundesregierung kam prompt. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck erklärte ebenfalls in der vergangenen Woche, dass die Priorisierung von Privathaushalten im Falle einer Gasknappheit von seinem Ministerium infrage gestellt werde. „Auch Verbraucherinnen und Verbraucher müssen ihren Anteil leisten. Eine dauerhafte oder langfristige Unterbrechung von industrieller Produktion hat massive Folgen für die Versorgung“, so der Grünen Politiker.

Die in der europäischen Notfallverordnung Gas vorgeschriebenen Priorisierungen wurden von Habeck mit dem Hinweis zur Seite gewischt, dass diese Strategie bei kurzfristigen und regionalen Problemen sinnvoll sei. „Dies ist aber nicht das Szenario, das wir jetzt im Moment haben. Wir reden hier möglicherweise von einer monatelangen Unterbrechung von Gasströmen“, argumentierte Habeck ganz im Sinne der Kapitalverbände.

Würde die EU-Kommission in der kommenden Woche nicht die aktualisierte EU-Strategie für die Energieversorgungssicherheit vorstellen, wären die Äußerungen des Wirtschaftsministers eigentlich kaum eine Nachricht wert. Schon seit Anfang Mai ist bekannt, dass die Fraktionen der Ampel-Koalition und der Union im Bundestag Forderungen von Seiten der Wirtschaft unterstützten, die aktuelle Reihenfolge bei der Gasversorgung zu verändern. FDP-Fraktionsvize Lukas Köhler bekannte sich bereits in der „Welt“ vom 2. Mai zu dieser Neuausrichtung: „Auch wenn Haushalte zu Recht oberste Priorität genießen, sollten pauschale Regelungen immer auf möglicherweise notwendige Ausnahmen hin überprüft werden.“ Aus der Sicht Köhlers müssten innerhalb der Industrie unterschiedliche Faktoren eine Rolle spielen, darunter die Bedeutung für Arbeitsplätze, Lieferketten und wirtschaftliche Schäden durch einen Produktionsstopp. Ähnlich positionierte sich auch die Energiepolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion Ingrid Nestle und aus Sicht von CDU-Vize Andreas Jung müsse die Industrie nur „freiwillige Einsparbeträge ausschöpfen“.

Diese Äußerungen, die schon Anfang Mai getätigt wurden, erwecken den Eindruck, dass die Regelungen zur Priorisierung privater Haushalte gegenüber der Industrie nur eine „Schönwetterverordnung“ sind. Sie scheinen nur dem Zweck zu dienen, die Moral an der Heimatfront aufrecht zu erhalten und nur so lange in Kraft zu bleiben, wie ausreichend Gas zur Verfügung steht. Wenn dem so ist, sagen die jüngsten Äußerungen Habecks weniger über vermeintlich neue Priorisierungen aus als vielmehr über die aktuelle ökonomische und wirtschaftliche Lage im Wirtschaftskrieg.

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"Wirtschaft sorgt sich", UZ vom 22. Juli 2022



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