Was der DGB im Aufruf zum 1. Mai nicht erwähnt

Wofür wir kämpfen

Es war im Jahr 1890, als erstmals Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter gleichzeitig den 1. Mai feierten. Auf dem Internationalen Kongress in Paris am 14. Juli 1889, an dem 400 Delegierte von sozialistischen Parteien und Gewerkschaften aus zahlreichen Ländern teilnahmen, wurde beschlossen, eine große internationale Manifestation am 1. Mai 1890 zu organisieren. Der Kampf um den 8-Stunden-Tag stand im Mittelpunkt dieser Manifestation. Trotz Repressionen beteiligten sich am 1. Mai 1890 in Deutschland etwa 100.000 Arbeiterinnen und Arbeiter an Streiks, Demonstrationen und sogenannten „Maispaziergängen“. Es war und ist der wichtigste Kampftag der Arbeiterklasse.

Und heute? Was sind die zentralen Themen des DGB zum 1. Mai 2024? „Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit“ lautet das Motto. Wichtig, notwendig und sinnvoll sind die im Aufruf angesprochenen Themen zum Streikrecht, für eine höhere Tarifbindung, einen verlässlichen Sozialstaat, gute Löhne, sichere Arbeit, Arbeitnehmerrechte, bezahlbare Wohnungen, gute Bildung und Sicherheit im Alter.

Der DGB klammert in seinem Aufruf zum 1. Mai aber auch wichtige Themen aus. Dazu gehören die Friedensfrage, die Hochrüstung sowie die Zusammenhänge und Auswirkungen der Kriegspolitik der Bundesregierung auf Soziales, Gesundheit, Bildung und Reallöhne. Es ist die Arbeiterklasse, die die Hochrüstung bezahlt, über die Steuern, über Sozialabbau, über Lohnraub. Es sind die Arbeiter, die auf den Schlachtfeldern sterben, nicht die Reichen und Regierenden. Deshalb müssen die Gewerkschaften als Interessenvertretung der Lohnabhängigen ein Interesse an Frieden haben, so wie es im Grundsatzprogramm und in der Satzung des DGB beschlossen wurde.

Ebenso ausgeklammert werden die Auswirkungen der Sanktionspolitik gegen Russland, die sowohl die Inflation befeuert als auch Reallohnsenkungen, Deindustrialisierung und die Vernichtung von Arbeitsplätzen. Doch wie soll ohne Einbeziehung dieser wichtigen Einflussfaktoren die richtige Stoßrichtung der gewerkschaftlichen Kämpfe entwickelt werden? Wie sollen die Gefahren eines 3. Weltkrieges abgewehrt werden? Wie soll das Kaputtsparen der öffentlichen Daseinsfürsorge wirkungsvoll bekämpft und wie sollen Arbeitsplätze erhalten werden? Der Widerstand gegen die Kriegspolitik und der Kampf für Frieden sind zentral, weil sie darüber bestimmen, wie sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen gestalten. Sie entscheiden darüber, wie sich die Kampfbedingungen und Durchsetzungskraft der Gewerkschaften entwickeln. Denn: Ohne Frieden ist alles nichts.

Ein zentrales Thema des DGB-Aufrufs ist die Tarifbindung. Es ist zu begrüßen, dass der DGB eine Kampagne „Tarifwende: Jetzt!“ seit einigen Monaten durchführt und auch am 1. Mai thematisiert. Denn nur noch rund die Hälfte der Beschäftigten ist in einem tarifgebundenen Arbeitsverhältnis. Tarifbindung sorgt eindeutig für höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten, mehr Urlaub und bessere Sonderleistungen. „Tarifwende: Jetzt!“ müsste allerdings auch beinhalten, dass den seit Jahren stattfindenden Reallohnsenkungen ein Riegel vorgeschoben wird, indem Tarifrunden offensiver geführt werden. Nur so lassen sich Kaufkraftverluste und Verarmung stoppen.

Im Aufruf des DGB zum 1. Mai steht zwar mehrmals der Wunsch nach „mehr Freizeit“. Aber nirgends werden kürzere Arbeitszeiten gefordert, auch nicht im Absatz „Tarifwende: Jetzt!“, obwohl dies angesichts des Arbeitsplatzabbaus, der Arbeitsdichte und -hetze mit allen gesundheitlichen Folgen dringend notwendig wäre. Eine Kampagne wie in den 1980er Jahren für Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich ist überfällig.

Die Formulierungen des DGB zum Thema Sicherheit lassen Interpretationen zu. Sie sind missverständlich, weil es keine eindeutigen Festlegungen gibt. So heißt es im Aufruf: „Mehr Sicherheit durch einen aktiven Staat! Der Staat muss endlich wieder handlungsfähig werden.“ Diese Aussage könnte sich auch auf Polizeiapparat oder Bundeswehr beziehen und hat so nichts in einem Gewerkschaftsaufruf zu suchen. In gleichen Absatz wird dann zwar auch ein verlässlicher Sozialstaat eingefordert, aber eindeutig sind die Aussagen nicht.

Noch ein Manko des Aufrufs: Da­rin wird nicht gegen die krisenverschärfende und kriegstreiberische Regierungspolitik orientiert, nicht gegen die Profitmaximierung der Konzerne, insbesondere der Rüstungskonzerne. Er wird deshalb den aktuellen Herausforderungen der gewerkschaftlichen Kämpfe nicht gerecht. Er bietet keine Gegenstrategien gegen Weltkriegsgefahr, Rechtsentwicklung, zunehmende Verarmung, Ausbeutung und Unterdrückung.

Die Mai-Manifestationen der ersten Jahrzehnte nach Entstehen hatten klare Ziele, für die gekämpft wurde: Für den 8-Stunden-Tag, allgemeines freies Wahlrecht, sozialen Schutz, Weltfrieden und internationale proletarische Verbrüderung. Rosa Luxemburg schrieb 1907 in der „Gleichheit“: „Die Maifeier ist ein lebendiges, historisches Stück des internationalen proletarischen Klassenkampfes, und deshalb spiegelt sie in sich seit bald 20 Jahren (…) alle Momente dieses Kampfes wider.“ Unsere Aufgabe als Kommunistinnen und Kommunisten ist, diese Spiegelung der Klassenkämpfe sichtbar zu machen und notwendige Ziele herauszuarbeiten. Also heraus zum 1. Mai: Gegen Kriege, Aufrüstung, Lohnraub und Sozialabbau!

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"Wofür wir kämpfen", UZ vom 12. April 2024



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