Ein Buchtipp von Harry Popow

Zielgenau

Karl-Heinz Otto: „Ikarus. Mein wunderbares richtiges Leben im doch so miesen falschen. Lebensschnipsel eines militanten Pazifisten aus drei Ismen“ Edition Märkische Reisebilder, Dr. Karl-Heinz Otto, Vertrieb Tel. 0331 270 17 87,

E-Mail: dr.otto.edit.maerk.reisebilder@t-online.de, www.carlotto.de

Ikarus – so wähnt sich laut Buchtitel ein einstiger NVA-Offizier, der sich hocharbeitete, oft misstrauisch beäugt oder auch behindert, heute von nach wie vor antikommunistisch aufgeheizten Möchtegern-Kriegern im Interesse einer „höheren Verantwortung Deutschlands an der Seite der USA und der NATO“ missachtet und totgeschwiegen.

Der unermüdlich gegen Krieg und Kriegsgefahr agierende 78-jährige Offizier a. D. und Schriftsteller heißt Karl-Heinz Otto. Nach Romanen und Erzählungen – bereits in der NVA – raffte er sich so lange Jahre nach der sogenannten Wende (die er korrekt Rückwende nennt) auf, sein Leben aufzuschreiben. Mit all den alten und den neuen Beulen, die er sich holen musste. Er, der Überzeugungstäter. Wollte er zu hoch hinaus?

Das 480-Seiten-Buch trägt den Titel „Ikarus“. Diese Lektüre strotzt von Fakten, Episoden, Zerwürfnissen, Begegnungen und ergänzenden geschichtlichen Informationen. Der Leser wird Zeuge, wie ein junger Mann vom Lande alle Hürden in Schulen und Dienst- und Arbeitsstellen trotz objektiver und subjektiver Stolpersteine genommen hat. Und so durchzieht auch seinen jüngsten Roman das, was man Selbstüberwindung nennt. Schwierigkeiten nicht aus dem Wege zu gehen und mutig Dummköpfen die Stirn zu bieten. Kraftakte, die ohne tiefe Überzeugung – sprich politische Motivation – nicht zu bewerkstelligen sind. Auch nicht ohne Selbstvertrauen, ohne Bildung und Ehrgeiz.

Im Epilog fasst er sein Leben so zusammen: Als er drei Jahre alt war, tobte der „beschissne Kriech“, von dem die Erwachsenen erzählten und den sein Vater mit dem Leben bezahlen musste. Als er zu Ende war, räumte uns unser Staat, „den bisher Benachteiligten, den Unterprivilegierten und Bildungsfernen, alle Möglichkeiten ein, unabhängig von Herkunft und vom Geldbeutel der Eltern zu neuen Ufern aufzubrechen …“ Karl-Heinz Otto legte das Abitur ab und wollte Architektur studieren. Er entschied sich nach dem Abitur für den Dienst als Offizier. Wie auch an anderen Textstellen fügt Karl-Heinz Otto in diesem Zusammenhang Worte Kanzler Adenauers an, wonach es gelte, nicht die Wiedervereinigung anzustreben, sondern die „Befreiung der Ostzone“.

Auch wenn Karl-Heinz die Unteroffiziere während der Grundausbildung mit ihrem „Hockerumwerfen“ bei ungenügendem Päckchenbau schier die Galle hochtreiben – er wird demnächst als Kanonier, Erfinder, engagierter Stabsoffizier und Geheimnisträger für Fla-Raketentechnik sowie viel später als Filmemacher und Schriftsteller seinen Beitrag zur Friedenserhaltung leisten. Gekrönt wurden anlässlich der „Messe der Meister von Morgen“ seine Bemühungen um Kampfkraft und Gefechtsbereitschaft bereits als Funkmessoffizier im Truppendienst mit zwei Goldmedaillen – für Simulatoren, die er für die Ausbildung von Operateuren an Rundblickstationen entwickelte, und schließlich mit der zweimaligen Auszeichnung mit dem Friedrich-Engels-Preis, mit dem besondere militärwissenschaftliche Leistungen geehrt wurden. Auch dies: Nach siebenjährigem Fernstudium zum Diplomingenieur der Elektronik an der Technischen Hochschule Ilmenau erhält er für sein Diplom als einziger der Matrikel E III ein Summa cum laude.

Bereits als jungen Offizier beruft man ihn in die Verwaltung Luftabwehr im Ministerium für Nationale Verteidigung, wo er sich bewährt und bald in verantwortlicher Position den Wechsel veralteter Flak- zu moderner Fla-Raketentechnik mitbestimmt. Auf Seite 7 gesteht er: „Und stets, wenn ich wie Ikarus wagte, in unergründete Höhen abzuheben, fanden sich Förderer wie Neider meiner Kreativität.“ Die ersteren wollten sich der Ergebnisse seines Forscherdranges bedienen, während die Geheimdienstler ihn als negativ-feindliches Element denunzierten und „unermüdlich an meinem Absturz werkelten …“

Nicht nur mitunter bösartige Unterstellungen der Abwehrorgane der NVA, auch Versuche, ihn mit fadenscheinigen Begründungen vom Studium in der SU abzuhalten, übrigens auch vom Fernstudium innerhalb der DDR, ließen ihn sich verwundert die Augen reiben, ob er denn bei soviel Dogmatismus noch richtig liege mit seiner Überzeugung von der Überlegenheit des Sozialismus. Enttäuschend auch andere Erlebnisse mit der Waffenbrüderschaft zur Sowjetarmee – als eine beginnende enge Freundschaft mit einem sowjetischen Offizier plötzlich an dessen Versetzung nach Kamtschatka zusammenbrach. Barrikaden der Freundschaft traf er als Kursant der Militärakademie in Kiew an, als ausländischen Studenten Besuche außerhalb von Kiew untersagt blieben.

Wer tief zu loten vermag, der sieht die Dinge in Zusammenhängen und gesellschaftlichen Dringlichkeiten ob des Kalten Krieges. So legt sich der Autor bereits im Prolog seiner Erinnerungen fest, indem er „penetranten Geschichtsklitterern“ in die Suppe spuckt, „die sich in unser Leben einmischen“. Er möchte nicht, dass Leute, die nicht einen einzigen Tag in der DDR gelebt, geschweige in deren Volksarmee gedient haben, erzählen wollen, wie seine Lebenszeit verlaufen sei. „Ich schreibe also, um mir die Deutungshoheit über mein eigenes wunderbar-mieses Leben nicht von anderen stehlen zu lassen“. (S. 6) Auf Seite 7 nennt er es ein historisches Unrecht, diese Volksarmee zu verteufeln, statt sie dafür zu loben, dass sie nie einen Krieg führte und verantwortungsbewusst ihre Selbstauflösung wählte, um damit einen Bürgerkrieg zu vermeiden. Doch schon wieder würden „Abermillionen von Schwertern darauf warten, zu Pflugscharen umgeschmiedet zu werden“.

So sehr sich die Staatssicherheit der DDR auch bemühte, den „aufsässigen“ Offizier Karl-Heinz Otto aus der Armee zu entfernen, eines müsse man ihr lassen – es gab auch ehrliche Urteile, ohne Denunzierung und Herabwürdigung. So liest sich dies auf Seite 372 so: Er sei ein kluger Theoretiker, in der praktischen Tätigkeit versiert, allseitig anerkannt, „Er ist ein Mensch, der nicht alles widerspruchslos hinnimmt, der tiefgründig nachdenkt und mit seinen Gedanken (…) nicht hinter dem Berg hält.“

Die vom Autor so bezeichneten „Lebensschnipsel eines militanten Pazifisten“ erweisen sich als lebensvolles Mosaik, das jedem, der die DDR bewusst erlebt hat, einen Genuss an Erinnerungen bereitet. Dazu gehören nicht nur die III. Weltfestspiele, Biermanns Ausbürgerung, Ernteeinsätze der NVA oder gar die Enttäuschungen, wenn Lehrer plötzlich die Seiten wechselten. Der Autor widerlegt Anmaßungen bürgerlicher Historiker und Medien über die Geschichte der DDR. Beeindruckend ebenfalls zahlreiche Naturbeschreibungen, ob auf dem Übungsgelände oder in der kasachischen Steppe. Hilfreich sind des Autors jeweilige Ergänzungen zur Geschichte sowie seine Vorliebe, Dichter und Denker wie Bertolt Brecht, Louis Fürnberg und Konfuzius zu Rate zu ziehen. Interessant des Autors Reisen nach Vietnam und Namibia und seine persönlichen Beobachtungen.

Im Epilog bedauert der Autor, „dass wir die bisher einmalige Chance, eine gerechtere Gesellschaft zu gründen, glattweg vergeigten“. (S. 480) Und so hofft er, sich auf Oscar Wilde berufend, dass die Menschheit, sollte sie ein besseres Land sehen, die richtigen Segel setzen möge. „Dass Sozialismus und Demokratie zusammengehören – und Stasispitzel verzichtbar sind – sollte nach unserem vergeigten Sozialismus-Experiment Allgemeingut und zur wichtigsten Lehre geworden sein.“

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"Zielgenau", UZ vom 2. September 2016



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