Ein Diskussionsbeitrag von Rainer Dörrenbecher

Zum Charakter des Zweiten Weltkrieges

Rainer Dörrenbecher

Zum 75. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus wurde in der UZ Nr. 19 der Beitrag des Historikers Anton Latzo „Erst die Sowjetunion machte den Zweiten Weltkrieg zu einem antifaschistischen Befreiungskrieg“ veröffentlicht.

Anton Latzo vertritt die These, der Zweite Weltkrieg sei aus der Konkurrenz der imperialistischen Mächte entstanden und erst „mit dem Kriegseintritt der Sowjetunion“ habe sich der Krieg „zum antifaschistischen Befreiungskrieg gewandelt“. Nicht alle marxistischen Historiker teilen diese Auffassung. Die unterschiedlichen Wertungen führen zu anderen politischen Schlussfolgerungen. Deshalb diskutiere ich als kommunistischer Politiker zu diesem Thema.

Die Ursachen des Zweiten Weltkrieges sind vielfältig. Sie haben allgemeine Kriterien der zwischenimperialistischen Konkurrenz und besondere, historisch konkrete.

Mit der Sowjetunion hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg eine gesellschaftspolitische Alternative und Gegenkraft zu den imperialistischen Ländern durchgesetzt. Die revolutionäre Nachkriegsphase, die sozialen Unruhen und das Erstarken Kommunistischer Parteien in einigen Ländern, besonders in und nach der Weltwirtschaftskrise, die Krise selbst, waren deutliche Anzeichen der Labilität kapitalistischer Staaten. Vor allem für die europäischen imperialistischen Länder war eine neue, für diese gemeinsame, Gefahr entstanden. Damit ist die politisch-ökonomische Situation, vor allem in Europa, wesentlich anders als vor dem Ersten Weltkrieg.

Auf der Grundlage der gemeinsamen Interessen als kapitalistische Staaten war eine antisozialistisch-antisowjetische Interessengemeinschaft entstanden. Unter diesen Bedingungen versuchte das imperialistische Deutschland seine Großmachtpläne zu entwickeln.

Auf der gleichen Seite der UZ bezogen Bruno und Tatjana Mahlow außereuropäische Gesichtspunkte mit ein. „Kein europäischer, sondern ein Weltkrieg“ war die Überschrift. Ihr Ansatz ist unter anderem die Einschätzung der Komintern auf dem VII. Weltkongress 1935 über die Hauptkriegsbrandstifter Japan und Deutschland.

Zur politisch-militärischen Strategie des faschistischen Deutschland schreiben sie: „Hitler machte keinen Hehl daraus, dass alles, was er tue, gegen Russland gerichtet sei … Damit wollte sich Hitler entsprechende Freiräume gegenüber Polen und dem Westen schaffen. Aber dies kann nicht als Ursache für den Überfall und für den Beginn des Zweiten Weltkriegs angesehen werden. Eher wollte er sich den Rücken gegenüber der UdSSR freihalten.“

Das ist eine andere Sicht der Gründe für den Beginn des Krieges und die anfängliche militärische Stoßrichtung Deutschlands. Die These vom allseitig imperialistischen Krieg wird hier nicht geteilt.

Auch der Historiker Stefan Bollinger geht davon aus, dass der Zweite Weltkrieg von deutscher Seite von Beginn an als Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion geplant war. Dazu gibt es nicht wenige Dokumente, die dies belegen. (S. Bollinger, Meinst du die Russen wollen Krieg?)

Der britische Historiker Eric Hobsbawm vertritt die Ansicht, die Regierungen Englands und Frankreichs wollten nach der Besetzung Polens zumindest vorrübergehend am Status Quo festhalten. (Das Zeitalter der Extreme)

Nach Hobsbawm traten die imperialistischen Widersprüche in den Hintergrund. Wesentlicher für die bürgerlichen Politiker der beiden Länder in diesem Zeitraum war die Vernichtung der Sowjetunion als gesellschaftliche Alternative. Der bürgerliche Begriff der „Appeasement-Politik“ des britischen Premiers Chamberlain sagt nur die halbe Wahrheit, verschleiert das antisowjetische Wesen dieser Politik.Die Aussagen der Komintern in der Anfangsphase des Zweiten Weltkrieges waren widersprüchlich. Der Historiker Horst Schumacher weist in „Die Kommunistische Internationale (1919 bis 1943)“ darauf hin.

„Die offiziellen Dokumente der Komintern vom September 1939 unterstrichen richtig den imperialistischen Charakter des Krieges von beiden Seiten, unterschätzten jedoch bei dieser Verallgemeinerung zuerst in gewissem Maße die ihm bereits von Anfang an innewohnenden antifaschistischen Befreiungstendenzen.“

Innerhalb des EKKI gab es offensichtlich keine einheitliche Einschätzung des Charakters des Kriegs. Ende 1939 vollzog das EKKI eine Korrektur, also in der Zeit des sogenannten Sitzkrieges. Schon vor dem Überfall Deutschlands auf die nordischen Länder, die Benelux-Staaten und Frankreich gab das EKKI die Orientierung an die KPen, den Widerstand in einen antifaschistischen, nationalen Befreiungskrieg umzuwandeln.

Schumacher betont den Prozesscharakter und spricht von zwei Tendenzen, die den Charakter des Krieges beeinflussten. Er vermeidet eine Festlegung auf einen „imperialistischen Charakter“. Seine These ist, in der Anfangsphase des Krieges hätten Tendenzen überwogen, die dem Krieg ein von beiden Seiten imperialistisches Gepräge gegeben habe. Er leitet dies ab aus den Bestrebungen der beiden Westmächte auf einen deutsch-sowjetischen Krieg, um dann „die eigenen imperialistischen Pläne verwirklichen zu können“. Aus meiner Sicht bleibt er hier inkonsequent und widersprüchlich.

Welchen Charakter hatte nun der Zweite Weltkrieg in den zwei Phasen, 1939 bis Juni 1941 und danach bis zu seinem Ende in Europa mit der Zerschlagung des deutschen Faschismus? Die damals handelnden antifaschistischen und nationalen Befreiungskräfte hatten und haben differenzierte Betrachtungen und Wertungen.

Nun ist das Wesen geschichtlicher Ereignisse und Prozesse nicht immer identisch mit den Ansichten und Absichten der handelnden Personen, der Chamberlain und Daladier, der Hitler, Abs und Krupp, aber auch der Stalin und Wilhelm Pieck. Marxistinnen und Marxisten bemühen sich, dieses Wesentliche und den objektiven Charakter zu erkennen. Unsere eigene Geschichtswissenschaft zeigt nicht wenige Beispiele, bei denen die Definition des objektiven Charakters von politischen Erwägungen bestimmt war und sich als fragwürdig herausgestellt hatte. Aus dieser Erfahrung heraus neige ich zu zurückhaltenden Definitionen eines objektiven Charakters.

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"Zum Charakter des Zweiten Weltkrieges", UZ vom 31. Juli 2020



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