Zur Irrationalität des Wertewestens

Als gäbe es kein Morgen

Alle Versuche nicht nur Moskaus oder der UNO, sondern selbst aus Kiew, um Wege zu einem Waffenstillstand und in der Perspektive zu einem Verständigungsfrieden zwischen Russland und der Ukraine zu suchen, sind in den letzten Wochen gescheitert. Und zwar an dem Willen der tonangebenden Kräfte in Washington, London, Brüssel und Berlin. Sie wollen den Krieg bis zum „Sieg“ der Ukraine. Die EU-Einpeitscherin Ursula von der Leyen präzisierte die Stoßrichtung der von ihr forcierten Wirtschaftssanktionen gegen Russland mit drei Zielen: Die Wirtschaft des Landes schädigen, die Inflation in die Höhe treiben und die industrielle Basis des Landes schwächen. Es ist für jeden ersichtlich, wer da gegenwärtig einen eisernen Vorhang mitten durch den eurasischen Kontinent herunterlässt. Durch ihn soll künftig kein Kubikmeter Gas, keine Kanne Öl, kein Weizenkorn und kein Geldschein mehr den Besitzer wechseln.

Jedem, der sich nicht völlig in Größenwahnphantasien hineinsteigert, müsste klar sein: Wenn das kein neuer 100-jähriger Krieg wird, wird es in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft einen Waffenstillstand geben. Danach wird es weiter – neben der Ukraine mit 40 Millionen Einwohnern – eine Russische Föderation mit 145 Millionen Einwohnern, entwickelter Industrie und wichtigen Bodenschätzen geben. Mit ihr alle Wirtschaftsbeziehungen abzubrechen ist das Handeln von Menschen, die so tun, als gäbe es kein Morgen. Es ist irrational. Es wäre das Ende der Globalisierung, also der „Herstellung eines Weltmarkts“, die Karl Marx 1858 in einem Brief an seinen Freund Engels mal als „die eigentliche Aufgabe der bürgerlichen Gesellschaft“ bezeichnet hat.

Wie sehr dieser Kurs die eigenen Kräfte übersteigt, zeigt sich nicht nur an der Preisexplosion für Energie und Lebensmittel, die nicht nur die ärmsten Länder, sondern zunehmend auch die Ärmsten in den (noch) reichsten Ländern der Erde trifft. Es zeigt sich auch am Niedergang des Euro und an der Andeutung von der Leyens, für das Aufrechterhalten der Funktionsfähigkeit des ukrainischen Staates und den Wiederaufbau nach dem Krieg solle die EU Schulden aufnehmen. Die Verarmung, die Brüssel, Berlin und London für das größte Land der Erde planen, wird die Völker ihrer eigenen Länder heimsuchen – wenn die sich dem irren Kurs ihrer Regierungen nicht widersetzen.

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"Als gäbe es kein Morgen", UZ vom 13. Mai 2022



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