Was von der neuen Regierung in Israel zu erwarten ist

„Bedrohung der Bürger- und Menschenrechte“

Wir führten dieses Gespräch über den Wahlausgang in Israel mit Nimrod Flaschenberg, einem früheren Berater der Knesset-Abgeordneten Aida Touma-Sliman und Manager der hebräischsprachigen Wahlkampagne der „Vereinigten Liste/Chadasch“. Außerdem ist er Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Israels. Nimrod lebt und studiert jetzt in Berlin. Im ersten Teil des Interviews geht es um die Situation nach den Wahlen und um mögliche reaktionäre Veränderungen in Israel. Im zweiten Teil, der in der kommenden Ausgabe von UZ erscheint, geht es um einzelne Parteien sowie den Zustand und die Perspektiven der Friedensbewegung.

UZ: Benjamin Netanjahu und seine Verbündeten haben die nötigen Stimmen erhalten, um eine Regierung zu bilden. Wie schätzt du dieses Ergebnis ein?

Nimrod Flaschenberg: Die Regierung, die sich hier bildet, stellt eine schwere Bedrohung der Bürger- und Menschenrechte und für die Reste des demokratischen Freiraums in Israel dar.

In allen früheren Regierungen stellte Netanjahu sicher, dass seine Koalition mehr oder weniger liberale oder linkszionistische Elemente umfasste (Arbeitspartei, die Politikerin Tzipora Livni oder die zentristische Partei von Moshe Kahlon). Das half dabei, die israelische Politik gegenüber dem internationalen Publikum schönzufärben und die israelische Regierung als „gemäßigt“ darzustellen. Diese Feigenblätter verhinderten einige dramatische Veränderungen im israelischen Rechtssystem. Netanjahu betrachtete sich selbst als „liberalkonservativ“. Das ist jetzt vorbei.

UZ: Die Schönfärberei ist vorbei – wer soll jetzt die Regierung bilden?

Nimrod Flaschenberg: Die neue Regierungskoalition umfasst den Likud, der sich radikalisiert, die ultraorthodoxen Parteien und die messianische bis geradezu faschistische „Religiös-Zionistische Partei“. Diese Partei ist eine Koalition zwischen extremen religiösen Siedlern, geführt von Bezalel Smotrich, und offensichtlichen Braunhemd-Faschisten, die vom neuen Star der israelischen Politik angeführt werden: Itamar Ben-Gvir. Ben-Gvir ist ein Anhänger von Rabbi Meir Kahane, der 1980 für seine Beteiligung an einer terroristischen Organisation verurteilt wurde. Er nahm kürzlich an einer Gedenkveranstaltung für Rabbi Kahane teil. Ben-Gvir wurde selbst mehrmals wegen Aufwiegelung und Unterstützung des Terrorismus verurteilt.

UZ: Welche Funktion soll Ben-Gvir in der neuen Regierung übernehmen?

Nimrod Flaschenberg: Ben-Gvir wird Polizeiminister werden und plant beispielsweise, die Vorschriften zu ändern, wann Polizisten Schusswaffen einsetzen können. Das würde den Polizisten das Recht geben, ungestraft auf Demonstranten oder Kriminelle zu schießen. Es wird erwartet, dass er unter dem Vorwand, gegen Kriminalität in den arabisch-palästinensischen Gemeinden vorzugehen, Polizeigewalt und Unterdrückung gegen die palästinensische Minderheit ausweitet. Das betrifft vor allem die am meisten unterprivilegierte Gruppe in Israel: die Beduinen im Süden.

Wir dürfen nicht vergessen, dass dieser Minister auch für die Besatzungstruppen in Ostjerusalem und in den sensibelsten Gebieten wie dem Haram al-Sharif – dem Tempelberg – zuständig ist.

Darüber hinaus ist es sehr gut möglich, dass der messianische Smotrich – der in der Vergangenheit in den jüdischen Terrorismus verwickelt war und bis vor einigen Jahren selbst in der radikalen Rechten als Extremist galt – zum Verteidigungsminister ernannt wird.

UZ: Der Oberste Gerichtshof schien immer einen Damm gegen bestimmte Aktionen der Regierung darzustellen. Was bedeutet der Wahlausgang für das israelische Justizwesen?

Nimrod Flaschenberg: Hier beabsichtigt diese Regierung, ein Gesetz zu erlassen, das es dem Parlament ermöglicht, Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs mit einer Mehrheit von 61 Stimmen zu kippen. Die Koalition wird 64 Sitze umfassen. Das bedeutet, dass alle rechtlichen Schutzmaßnahmen des Obersten Gerichtshofs außer Kraft gesetzt werden könnten – und wahrscheinlich werden. Dies ist eine offensichtliche Änderung in der verfassungsmäßigen Struktur Israels, die zu schwerwiegenden Konsequenzen führen könnte. Dazu könnten eine Reihe diskriminierender Maßnahmen gegen Palästinenser und LGBTQ-Personen gehören. Weiter könnte die Legalisierung illegaler Siedlungen folgen, die Aufhebung von Gesetzen zur Unterstützung der Menschenrechte. Bis hin zu einem für Parteien, welche die arabische Gemeinschaft vertreten, geltenden Verbot, für die Knesset zu kandidieren.

UZ: Man könnte argumentieren, dass Naftali Bennett und Jair Lapid als Ministerpräsidenten die Politik von Netanjahu noch umfassender umgesetzt haben als er selbst: Es gab mehr Zerstörung von palästinensischen Wohnhäusern, mehr israelische Siedlungen und so weiter. Wo siehst du den Hauptunterschied zwischen der kommenden und den früheren Regierungen?

Nimrod Flaschenberg: Wir beschreiben es manchmal als den Unterschied zwischen dem „rechten Flügel der Siedler“ und dem „faschistischen rechten Flügel“. Die Regierungen unter Bennett und Lapid waren in mehreren Aspekten sehr rechtsgerichtet. Im Vergleich zu den früheren Regierungen Netanjahu verstärkten sie die Gewalt gegen Palästinenser in der Westbank, weiteten die Siedlungen aus und zerstörten mehr palästinensische Wohnhäuser. Es waren auch die am stärksten neoliberal ausgerichteten Regierungen Israels in den letzten 20 Jahren. Auf ihrer Tagesordnung stand die weitere Liberalisierung von Vorschriften, sie versetzten den arbeitenden Klassen Schläge auf Schläge. Diese Regierungen erhöhten das Renteneintrittsalter für Frauen, verpackten mehr reale Vermögenswerte der Rentenfonds in Finanzinstrumente, die am Markt gehandelt werden, und verringerten die Regulierung dramatisch. Sie förderten auch die strengste fiskalische Sparpolitik in einer Zeit, in der sich die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößerte.

UZ: Welche Rolle – wenn überhaupt – hat die Wirtschaft im Wahlkampf gespielt?

Nimrod Flaschenberg: Wie ich schon erwähnt habe, waren die letzten Regierungen die am stärksten neoliberal orientierten in den letzten Jahrzehnten. „Mitte-Links“ repräsentiert in Israel einen Block der bourgeoisen und oberen Mittelklasse, während der Likud die untere Mittelklasse und ultraorthodoxe Arme repräsentiert – und auch religiöse Zionisten, deren Klassenposition sich ähnlich derjenigen der „Mitte-Links“-Wähler darstellt.

Ein großer Teil der Wahlkampagne von Likud und der ultraorthodoxen Parteien richtete sich gegen die rechte Wirtschaftspolitik von Bennett und Lapid, die von Finanzminister Avigdor Liebermann gestaltet wurde. Zur Zeit von Netanjahu als Premierminister regierte die Rechte in einer klar kapitalistischen, konservativen Art und Weise. Aber für diese Wahlen brachte Netanjahu den Populisten in sich zum Vorschein. Er trat für eine kostenfreie Erziehung von Geburt an ein und eine Umstrukturierung der Hypothekenzinsen – gute Vorschläge, die er in der Vergangenheit nie vorgebracht hatte.

UZ: Diese Regierungen hielten dennoch gewisse Grenzen ein?

Nimrod Flaschenberg: Die letzte Regierung bewahrte einen Status quo der tatsächlichen staatlichen Struktur Israels und förderte einige bürgerliche Freiheiten. Sie hat einige kleine Schritte in der Frage der Bekämpfung von Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen unternommen und im Allgemeinen einen liberaleren Ansatz vertreten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die letzte Regierung nicht besser war als die Regierungen, die vor ihr kamen. Dennoch könnte die neue Regierung viel schlimmer sein.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"„Bedrohung der Bürger- und Menschenrechte“", UZ vom 18. November 2022



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Haus.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit