Sexuelle Übergriffe betreffen nicht nur Flüchtlingsfrauen

Breite gesellschaftliche Debatte erforderlich

Von Birgit Gärtner

In vielen Notunterkünften, Hallen, Zelten und Fluren müssen Frauen und Kinder sowie Minderjährige allein reisende männliche Flüchtlinge monatelang neben fremden Männern schlafen. Duschräume und Toiletten sind oft nicht nach Geschlechtern getrennt. Es fehlen Rückzugsorte, Vorhänge, abschließbare Räume. Allein das ist für viele Frauen (und auch männliche Minderjährige) unerträglich. Noch unerträglicher ist allerdings, dass diese Lebensbedingungen ihnen keinen Schutz vor körperlicher Gewalt und sexuellen Übergriffen bieten.

Bereits im August schlugen Frauen- und soziale Verbände in Hessen Alarm wegen sich häufender sexueller Übergriffe auf Frauen und Kinder in den Massenunterkünften. Von Vergewaltigungen und sogar Prostitution war die Rede. Genaue Zahlen gab und gibt es allerdings nicht, weil niemand den Überblick hat, was in den Massenunterkünften so abläuft. So blieben beispielsweise kürzlich Hunderte Flüchtlinge in einem ehemaligen Baumarkt in Hamburg ein ganzes Wochenende völlig sich selbst überlassen, weil der Senat und die zuständigen Behörden es nicht fertig brachten, mit den Flüchtlingen auch die notwendige Infrastruktur, Betten, Decken, Nahrung und ein Betreuer-Team zu schicken. Außerdem kommt es bei Vorfällen nur in den seltensten Fällen zur Anzeige.

Schätzungen zufolge kommen in diesem Jahr 800 000 Flüchtlinge, davon 25 Prozent Frauen, die in Deutschland bleiben wollen und untergebracht werden müssen. Das passiert fast ausnahmslos in Massenunterkünften, mehrere Hundert Menschen auf engstem Raum wild durcheinander gewürfelt. Soweit überhaupt vorhanden, befinden sich die sanitären Anlagen in separaten Containern, sind häufig nicht abschließbar, nicht selten nicht einmal nach Geschlechtern getrennt. Viele Frauen – auch in kleineren Unterkünften – veranlasst das dazu, des Nachts im Bedarfsfalle nicht auf die Toilette zu gehen, sondern irgendwelche nicht für diesen Zweck geeignete Behältnisse zu benutzen. Konflikte unter den Bewohnerinnen und Bewohnern sind dadurch verständlicherweise programmiert.

Die Begründung für diese Zustände ist immer dieselbe: die „Masse“ an Flüchtlingen überfordert ausnahmslos alle, und es gibt weder Platz noch Geld für menschenwürdige Unterbringung.

Außerdem sollen sich die Flüchtlinge nicht zu wohl fühlen in unserem schönen Land, denn schließlich wird ein erheblicher Teil von ihnen nicht hierbleiben können. Die Parteien von CSU bis zur „Linken“ sind sich einig, dass Asylanträge zügig bearbeitet und dann auch ebenso zügig die Entscheidung entsprechend umgesetzt werden soll: Im besten Falle bei einem positiven Bescheid Verlegung in kleinere Unterkünfte oder Wohnungen, bei einem ablehnenden Bescheid im günstigsten Falle freiwillige Ausreise, im ungünstigsten Fall zwangsweise Abschiebung. Dass sie diesen rechtsstaatlich abgesegneten menschenfeindlichen „Asyl-Kompromiss“ mittragen werden, machten sowohl Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow als auch der neue Ko-Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Partei „Die Linke“, Dietmar Bartsch, mehrfach deutlich, u. a. im sonntäglichen „Bericht aus Berlin“.

Belastbare Zahlen über sexuelle Übergriffe und (sexuelle) Gewalt gegen Frauen in den Flüchtlingsunterkünften gibt es nicht, Fakt ist allerdings, dass z. B. in Hamburg im ersten Halbjahr 2015, das war vor der so genannten „Flüchtlingskrise“, 11 Frauen und 13 Kinder in einem der sechs Frauenhäuser Schutz suchten. Das ergab eine kleine schriftliche Anfrage der FDP-Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft. Die Vorfälle scheinen sich zu häufen. Die Rede ist von Frauen, die sich wie Freiwild fühlen, begrapscht und eingeschüchtert werden, (Ehe)Frauen, die von (Ehe)Männern vergewaltigt werden. Das männliche Dominanzverhalten macht auch vor den weiblichen Beschäftigten z. B. der Trägervereine nicht halt. Informationen darüber gibt es allerdings nur hinter vorgehaltener Hand, Anzeigen sind nicht bekannt.

Entgegen einer Antwort auf eine schriftliche kleine Anfrage der Hamburger Linksfraktion von Anfang Oktober 2015, keine separaten Unterkünfte für Frauen und Kinder schaffen zu wollen, entschied sich der Senat offensichtlich nun doch zu diesem Schritt: Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) richtet im November eine Unterkunft ein, in der etwa 100 bis 150 Menschen aufgenommen werden sollen, homosexuelle Männer, allein reisende Frauen, Frauen mit Kindern und Schwangere. Das Albertinen-Diakoniewerk stellt ab Mitte Januar 2016 vorübergehend ein Gebäude für die Versorgung von Flüchtlingen zur Verfügung: Etwa 65 Plätze für die Versorgung von allein reisenden Frauen, Schwangeren und Müttern mit kleinen Kindern. Auch in Hessen werden separate Unterkünfte eingerichtet. Die Frauenhäuser nehmen grundsätzlich alle Frauen auf. Die Unterbringung von Schutz suchenden weiblichen Vertriebenen stellt sie aber vor besondere Probleme. Die Unterbringung im Frauenhaus ist auf eine zeitlich begrenzte Verweildauer ausgelegt. So schnell als möglich sollen die betroffenen Frauen in Wohnungen vermittelt werden. Das ist aber mit Asylbewerberinnen ohne Aufenthaltstitel nicht möglich.

Außerdem sind die Frauenhäuser sowieso total überlastet. Das deutet auf ein ganz anderes Problem hin: Nämlich, dass (sexuelle) Gewalt gegen Frauen kein durch Flucht bedingtes Problem ist, sondern auch hierzulande ein gesellschaftliches. Und zwar ein weit verbreitetes: Laut Terre de Femmes ist fast jede siebte Frau in Deutschland von sexueller Gewalt betroffen. 13 Prozent der in Deutschland lebenden Frauen haben seit dem 16. Lebensjahr strafrechtlich relevante Formen sexueller Gewalt erlebt. Das heißt Vergewaltigung, versuchte Vergewaltigung oder unterschiedliche Formen von sexueller Nötigung. Rund 25 Prozent der in Deutschland lebenden Frauen ist körperliche oder sexuelle Gewalt (oder beides) durch aktuelle oder frühere Beziehungspartnerinnen oder -partner widerfahren. Nur 5 Prozent der Sexualstraftaten werden angezeigt. Laut der Studie „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen“ haben nur 8 Prozent der Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben, die Polizei eingeschaltet. Von 100 angezeigten Vergewaltigungen enden im Schnitt nur 13 mit einer Verurteilung.

Untersuchungen belegen, dass sexuelle Gewalt bis zu 99 Prozent von Männern verübt wird; der Anteil von Frauen als Täterinnen beträgt unter 1 Prozent. Ein ähnliches Verhältnis ergibt sich bei sexueller Belästigung: In 97 Prozent der Fälle gehen die Belästigungen von männlichen Personen und in nur zwei der Fälle von weiblichen Personen aus. „Entgegen der weit verbreiteten Stereotype, wonach die Quote der Falschanschuldigungen bei Vergewaltigung beträchtlich ist, liegt der Anteil bei nur drei Prozent“, so Terre de Femmes.

Was wir also brauchen sind schnelle, praktikable Lösungen für Frauen in den Massenunterkünften und eine generelle, nachhaltige, breite gesellschaftliche Debatte über das Thema (sexuelle) Gewalt gegen Frauen sowie Opferschutz für alle Betroffenen.

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"Breite gesellschaftliche Debatte erforderlich", UZ vom 30. Oktober 2015



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