Das zynische Spiel mit den Migranten an der Grenze zwischen Belarus und Polen

Fabrikation einer Krise

Die Kartellmedien überschlagen sich. „Lukaschenko schießt mit Menschen auf die Europäische Union“, textete „Bild“-Chefreporter Peter Tiede. Seit einigen Tagen gibt es außer Corona nur ein Thema: Die Lage an der Grenze zwischen Belarus und Polen. Dort bemühen sich etwa 4.000 Menschen darum, auf irgendeine Weise Zugang zum polnischen Staatsgebiet und damit zur EU zu bekommen. Die Lage dieser Menschen, die zum Spielball politischer Winkelzüge geworden sind, ist alles andere als gut. Nachts herrschen Minustemperaturen, die polnische Regierung hat Militär inklusive Panzer aufgefahren, NATO-Draht, Schüsse über die Köpfe hinweg, Sirenengeheul, Tränengas, Schlagstöcke, das ganze Programm. Die polnische Regierung verschärfte die Lage nach Kräften. Die britische Regierung mochte da nicht abseits stehen und unterstützt das polnische Militär mit einem eigenen Kontingent. Die Fabrikation einer Superkrise läuft auf vollen Touren.

Belarus, nein, Lukaschenko versucht die EU zu destabilisieren, lautet die Sprachregelung der antirussischen Kartellmedien von „taz“ bis „Bild“. Und natürlich gibt es einen Mastermind hinter alldem. Es ist, wer hätte es vermutet, Wladimir Putin. Worum geht es? Einige Migranten an der polnischen Grenze. Als Angela Merkel die deutsche Grenze für Hunderttausende öffnete, wurde sie gefeiert. Nun destabilisieren 4.000 die ganze EU? Deutlich weniger Migranten als sich beispielsweise in einer Woche illegal und ohne jede Schlagzeile von Frankreich nach Großbritannien bewegen. Es ist zu einem Merkmal des heutigen Kampagnen-„Journalismus“ geworden, dass die Faktenlage mittlerweile völlig gleichgültig ist. Es geht nur noch darum, die gewünschten Botschaften, die Narrative mit Brachialgewalt in die Köpfe zu hämmern.

Eine massive Medienkampagne, polnische und britische Truppen an der Grenze zu Belarus, der Ruf nach europäischer Verstärkung, Sanktionsdrohungen gegen die Fluggesellschaften Belavia und Aeroflot. Den Regime-Change-erfahrenen Führungen in Minsk und Moskau ist natürlich klar, was das bedeutet. Sowohl Alexander Lukaschenko als auch Wladimir Putin werden von den westlichen Mächten als illegitime Diktatoren angesehen, die besser heute als morgen aus ihren Ämtern entfernt gehören. An diesem Projekt bastelt der Westen seit fast einem Jahrzehnt. Nun also ein weiterer Versuch, die Regierungen in Minsk und Moskau zumindest ein Stück weit zu delegitimieren. Mit den Migranten als Manövriermasse.

Aber es gibt weitere Aspekte dieses fabrizierten Konfliktes. Nord Stream 2 ist fertiggestellt. Die lukrativen Einnahmen aus dem Gastransit für die Ukraine und das mit ihr verbündete Polen sind damit in Gefahr. Warum sollte Gazprom Milliarden zahlen, wenn es sich durch das Nutzen einer anderen Leitung vermeiden ließe? Dazu kommt, dass der Streit der polnischen Regierung mit der EU-Bürokratie Ende Oktober eskalierte und Polen vom Europäischen Gerichtshof mit einem Zwangsgeld von einer Million Euro pro Tag belegt wurde. Die polnische Regierung sollte gezwungen werden, in Brüssel zu Kreuze zu kriechen. Und es hat einen innenpolitischen Aspekt. Die angeschlagene PiS-Regierung versucht, die Menschen hinter sich zu bringen, indem sie Polen gegen eine „Invasion“ aus Belarus verteidigt. Nicht sehr viel anders die Lage des rechtsradikalen Regimes in Kiew.

Dabei weiß die Regierung in Polen sehr genau, ebenso wie die Machthaber in Kiew, dass, wenn es zu einem Konflikt mit Minsk oder Moskau kommt, der Rest der EU gar nicht anders kann, als Warschau und Kiew den Rücken zu stärken. Hier wedelt wieder einmal der Schwanz mit dem Hund. Warschau und Kiew versuchen also, die „Bedrohung“ durch Lukaschenko und Putin so grell wie möglich zu zeichnen. Darum die Truppen, die Panzer an der belarussischen Grenze und an der Grenze zu den Donbass-Republiken. Boris Johnson, der gegen die illegale Einwanderung in Britannien kaum etwas unternimmt, sieht als „Verteidiger von Polen“ eine Chance, seine unterirdischen Popularitätswerte zu boosten.

Die nicht erst seit der „Flüchtlings-Krise“ existierende Regime-Change- und Sanktionskampagne gegen Belarus und auch gegen Russland hat die beiden Staaten wieder deutlich enger zueinander gebracht. Belarus hat sich weiter vom Westen entfernt und ist auch ökonomisch enger an Russland herangerückt. Es hat sich weiter in die Staaten der Eurasischen Kooperation, in die Shanghai Cooperation (SCO), die Belt and Road Initiative und die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft (EAWG) integriert. Die russische Regierung hat ihrerseits mit dem Überflug strategischer Bomber und dem Einsatz von Fallschirmjägern deutlich gemacht, dass die Kooperation mit Minsk auch eine militärische Dimension hat. Zwei russische Tupolew Tu-22M3-Überschallbomber und danach zwei Tupolew Tu-160-Langstreckenbomber, die schlagkräftigsten Bombenflugzeuge der russischen Luftstreitkräfte, ausrüstbar mit konventionell und nuklear bewaffneten Langstreckenraketen, haben das Staatsgebiet von Belarus überflogen und klar gemacht, dass, wenn es zum Schwur kommt, das gesamte Staatsgebiet Polens, der baltischen Staaten und die Ostsee in Reichweite von hochpotenten russischen Hyperschallwaffen sind.

Natürlich wäre es, wie Wladimir Putin im Interview betonte, auch möglich gewesen, das ganze Problem einfach und geräuschlos zu lösen. In Warschau, Berlin oder Brüssel hätte jemand zum Telefon greifen und Alexander Lukaschenko anrufen können. Mit etwas gutem Willen und ein bisschen Geld wären die Flüchtlinge menschenwürdig untergebracht worden. Weitere Migranten sind, soweit zu sehen ist, ohnehin nicht auf dem Weg. Aber dann wäre ja die ganze schöne Kampagne nicht möglich gewesen.

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"Fabrikation einer Krise", UZ vom 19. November 2021



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