Zur historischen Rolle von Merkel und Scholz

Defensivspieler

In den Chor der Huldigungen für die ehemalige Kanzlerin Angela Merkel mischte sich am zweiten Dezember in der „Frankfurter Allgemeine“ eine bemerkenswerte Einsicht. Bei der Frage, was denn die Kanzlerschaft Merkels auszeichne, kommt das Blatt zu dem Schluss, sie habe „nicht erfolglos“ darum gekämpft, „vom politisch wie ökonomisch, von innen wie von außen bedrängten Westen zu retten, was noch zu retten ist“. Das ist das Eingeständnis einer strategischen Defensivposition.

Damit ist sie nicht allein. Bereits im August hatte der nunmehr neue Kanzler Olaf Scholz erklärt: „Denn in der Welt, vor allem in Asien, gibt es Milliarden Menschen, die auch können, was wir können. Als Politik müssen wir den Bürgerinnen und Bürgern deshalb eine gute Perspektive hier in Deutschland bieten … damit demnächst niemand traurig auf den Wohlstand anderer Kontinente schauen muss.“ Auch das atmet nicht den Geist einer politischen Kraft, die von sich überzeugt ist, so viel Ausstrahlung zu entfalten, dass sich andere an ihr orientieren – es geht auch hier um das Ziel, vom Wohlstandsunterschied so viel zu retten, wie noch zu retten ist.

Diese strategische Grundposition überspannt also sowohl die letzte als auch die jetzt beginnende deutsche Kanzlerschaft. Vor allem aber zeigen beide Zitate: Die herrschenden Kreise in diesem Land wissen um ihre Lage. Das haben sie vielen Linken voraus. Von denen meinen vor allem hierzulande viele, immer noch geblendet von dem Blitz, der uns alle 1989 getroffen hat, die Linke sei weiter in der Defensive, das Kapital in der Offensive. Das mag nach der schmerzhaften Niederlage, die die Sache von Marx, Engels, Lenin und Luxemburg auf deren Heimatboden damals erlitten hat, noch zugetroffen haben. Das war eine verlorene Schlacht. Aber der spätestens seit 1848 zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie, bürgerlicher Weltanschauung und Marxismus, Kapitalismus und Sozialismus hin und her wogende Krieg der Klassen wurde 1989 nicht beendet, sondern es gab eben – militärisch gesprochen – nur eine Niederlage auf einem Teilabschnitt dieses weltweiten Ringens, mehr nicht.

Die politisch kompliziertesten und herausforderndsten Zeiten sind meist nicht die einer beständigen Defensive oder beständigen Offensive, sondern vor allem Zeiten, in der Defensive und Offensive sich ablösen. In diesen Monaten werden wir alle erinnert an die Ereignisse vor 80 Jahren. Im Zeitraum vom Herbst 1941 bis zum Frühjahr 1943 vollzog sich dort etwas ähnliches, nämlich der strategische Umschwung, der das bis dahin ökonomisch, politisch und militärisch offensiv auftretende Deutschland in die Defensive, die vorher in die Defensive gedrängte Anti-Hitler-Koalition in die Offensive brachte. Damals wie heute sind solche Phasen begleitet von eng beieinander liegender Verzagtheit und Übermut nach ersten Erfolgen.

Wir sind gut beraten, uns geistig aus der inneren Defensive, in der sich einige häuslich eingerichtet haben, zu befreien und die Herausforderungen der sich weltweit immer deutlicher abzeichnenden Offensive der Partei Marx’ anzunehmen. Unser Gegner ist ökonomisch in der Defensive, er ist politisch im Kampf gegen Corona zunehmend von der Rolle, er verliert Vertrauen der eigenen Völker in seine Führungsfähigkeit und er liebäugelt in seiner beginnenden Panik mit der letzten starken Karte, die er in seinen Händen glaubt, dem militärischen Blatt.
Wachsam also sollten wir sein, vor allem aber optimistisch: Wir sind in der Offensive.

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"Defensivspieler", UZ vom 10. Dezember 2021



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