CDU/CSU-Regierungsziel von 1965

Die „formierte Gesellschaft“

Von WB

Vor etwas mehr als vierzig Jahren (am 5. Mai 1977) starb der ehemalige CDU-Wirtschaftsminister unter Bundeskanzler Konrad Adenauer (1949 – 1963) und sein Nachfolger als Bundeskanzler (1963 – 1966), Ludwig Erhard. Mit diesem Namen wird der Mythos von der „freien oder sozialen Marktwirtschaft“ und vom „Wirtschaftswunder“ verbunden. Manche alte Gewerkschafter oder Gewerkschafterin werden sich jedoch sicher noch an die heftigen „Maßhalteapelle“ erinnern, wenn es hart um höhere Löhne ging. Kein Mythos ist Erhards Rolle als Hauptverfechter einer „formierten Gesellschaft“. Sie wurde einst auch als „nach-pluralistische Gesellschaft“ bezeichnet, in der nicht mehr die Verbände und Parteien um ihre Interessen kämpfen, sondern alle Einzelinteressen dem „Gemeinwohl“ unterzuordnen sind. Unter „Gemeinwohl“ sei eine gut wachsende Wirtschaft zu verstehen („Nur wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es uns allen gut“). Experten, Sachzwänge, ökonomischer Nutzen und Notwendigkeit, gesellschaftliche Leistungen und Eigenverantwortung müssen „Demokratismus“ und Parlamentsmehrheiten ersetzen („Keine Diktatur der Mehrheit“). Manche dieser alten Vorstellungen sind auch heute noch in der Diskussion um eine „Reform und Modernisierung der Demokratie und des Parlamentarismus“ zu erkennen.

Hinter der „formierten Gesellschaft“ steckte als theoretischer Stichwortgeber der Publizist und Erhard-Kanzlerberater Rüdiger Altmann (1.12.1922 – 13.2.2000). Seine zen­trale Forderung lautete „Ein starker Staat gegen den legalisierten und zementierten Pluralismus“. Seine „autoritäre Staatsauffassung“ war kein Wunder, denn Altmann hatte sechs Jahre in Marburg bei Carl Schmitt, dem führenden Theoretiker des „starken Staates“, studiert. Altmann prägte den Begriff „formierte Gesellschaft“ und sein Einfluss reichte bis in den SPD-Bundesvorstand. Als stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelstages war seine Meinung verständlich: „Gefährdet wird diese Gesellschaft nicht mehr durch soziale Konflikte alten Stils, sondern durch das funktionslose Wuchern der organisierten Interessen (…) Denn wenn diese Demokratie sich ruiniert, dann durch ihre eigene Willensschwäche.“ Nur aus den gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Zielvorstellungen können sich gültige gesellschaftliche Interessen herleiten. Um diese Zielvorstellungen und die „gemeinsamen Interessen“ zu schützen, ist, wenn erforderlich, ein „starker Staat“ notwendig.

Die CDU/CSU als Regierungspartei und Ludwig Erhard als Bundeskanzler versuchten in jener Zeit den veränderten Existenzbedingungen des westdeutschen Imperialismus in ihrem Programm Rechnung zu tragen. Die Union stellte ihr gesellschaftliches Konzept eines innenpolitischen Stabilisierungsprogrammes 1965 auf dem Bundesparteitag der CDU in Düsseldorf unter dem Schlagwort der „formierten Gesellschaft“ vor. Denn „nur eine Verfassung der Gesellschaft, in der wir alle Kräfte weitschauend einsetzen können, wird den Wohlstand, die soziale Sicherheit und die kulturelle Blüte unseres Volkes gewährleisten (…) Wir sollten uns klar darüber sein, dass auch unsere politische Ordnung einem natürlichen Entwicklungsprozess unterworfen ist.“ (L. Erhard)

Dieses Konzept blieb lange Zeit Grundlinie der CDU/CSU-Politik. Doch der Begriff „formierte Gesellschaft“ klang in der öffentlichen Diskussion doch zu sehr nach „Gleichschaltung“. Es wurde später mehr von einer „Leistungsgesellschaft/-gemeinschaft“ oder „Industriegesellschaft“ gesprochen. Diese Begriffe setzten immer die Unterordnung aller „Einzelinteressen“ unter eine „gesamtgesellschaftliche Zielstellung“ einer nach innen und nach außen starken deutschen Industriemacht voraus. Darauf aufbauend auf eine politische und militärische Handlungsstärke des Staates auf dem europäischen und dem Weltmarkt.

Widerstand der demokratischen Bewegungen

Schon 1956 warb Ludwig Erhard mit pathetischen Worten für eine „ideale Gesellschaft der vollen ökonomischen Machtentfaltung“ des modernen Kapitalismus: „Gerade eine Gemeinschaft freier Menschen muss sich über alle parteipolitischen Zänkereien Ziele setzen können, die von jedem Einzelnen geglaubt und erlebt werden und die uns über das Materielle hinaus auf die Erfüllung gemeinsamer Aufgaben vertrauen lassen.“

Die Unternehmerverbände lobten selbstverständlich diese Ideen und versuchten die gesellschaftliche „Formierung“ in ihre Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften durchzusetzen. Eines ist damals in den „Gewerkschaftlichen Monatshefte“, dem Organ des DGB, deutlich benannt worden: „(…) man (wird) das Gefühl nicht los, diese Verhandlungen würden dazu genutzt, die sozialen Gegensätze zu unterdrücken, das Modell der Großen Koalition auf die Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen zu übertragen, die Gesellschaft zu ‚formieren’. Die Teilnehmer werden verstrickt in ein Netz wissenschaftlich ergründeter Zusammenhänge, die ihnen ihr Handeln vorschreiben. Die Tarifautonomie schwindet dahin, nicht etwa unter äußeren Zwang, sondern unter dem Sachzwang der Logik, wonach die Einhaltung bestimmter Leitlinien allen Seiten – auch den Arbeitnehmern – größeren Vorteil einbringt als das autonome Austragen der Interessenkonflikte.“ (W. Schmidt, Sachzwang und Tarifautonomie, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Köln, Nr. 6/1968, S. 336)

Reinhard Opitz formulierte damals die gründlichste und schärfste Kritik am Konzept der „formierten Gesellschaft“ in der Zeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“. 1965 hatte er in seinem Artikel „Der große Plan der CDU“ die „formierte Gesellschaft“„ analysiert und kam zu folgenden Ergebnissen:

• Das „Gemeinwohl“, dem sich Parlament, Parteien, Länderregierungen, Kommunen, Gewerkschaften und alle übrigen Gruppen der Gesellschaft unterordnen sollen, ist in seinem Inhalt identisch mit den wirtschaftlichen und politischen Interessen der großen Industriekonzerne und der ihnen interessenmäßig verbundenen Großbanken. Die Interessen anderer gesellschaftlichen Gruppen sind bei der inhaltlichen Bestimmung dessen, was jeweils als das Interesse „des Ganzen“ ausgegeben wird, immer nur so weit berücksichtigt, wie ihre Berücksichtigung im Interesse der Industrie selbst liegt.

• Um eine kooperierende Gesellschaft herzustellen und ihre Funktionsfähigkeit dauerhaft sichern zu können, verlangt es einen starken Staat. Eine „Reform der deutschen Demokratie“ soll eingeleitet werden. Mehrheitsbeschlüsse im Parlament sollen in wesentlichen Fragen für die Regierung nicht bindend sein. Den Landes- und Kommunalverwaltungen wird die Selbstständigkeit eingeschränkt. Der Staatshaushalt soll in wichtigen Entscheidungen dem Parlament entzogen werden. Das Grundgesetz soll danach geändert (modernisiert) werden.

• Als das stärkste Hindernis auf dem Wege in die „formierte Gesellschaft“ erweist sich die seit 1945 in die deutsche Öffentlichkeit getragene und vor allem bei der Jugend anzutreffende Demokratie-Erwartung. Mit der Unterscheidung von Demokratie und „Demokratismus“ sollen alle auf rationalistische Traditionen zurückgehenden Momente aus dem Demokratie-Begriff eliminiert, seine humanistischen, liberalen und sozialen Inhalte als illegitime säkularisierte Heilserwartungen deklassiert und damit in den Bereich des politisch nicht Realisationswürdigen verwiesen werden.

• Die Demokratie soll nach dem Willen der deutschen Industriekonzerne diesmal nicht weggeputscht, sie soll auf eine legale und der Bevölkerung möglichst unmerkliche, eben „moderne“ Art wegmanipuliert werden.

• Nach der Devise „Heute Deutschland, morgen Europa, dann die ganze Welt“ wird die Idee der „formierten Gesellschaft“ als „Heilsbringer“ für das kapitalistische Europa angeboten. Sie ist, nach Meinung ihrer Verfechter, geeignet, eine Leitidee für die Neugestaltung unseres Erdteils wie auch für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung anderer Völker zu sein. Wenn dieser Schritt gelingt, dann wird sich die Anziehungskraft einer so gegliederten Gesellschaft anderen Formen gegenüber als weit überlegen erweisen. Zugleich wird sie den Sozialismus ideologisch und politisch aufzehren.

Formierte Gesellschaft gleich formierte Herrschaft

Wenn dann nicht alles nach dem Plan des Kapitals funktioniert, wird die Frage „Demokratie oder Diktatur“ konkret. Die Prediger der „formierten Gesellschaft“ zeichneten das Bild eines „Gesamtbetriebes ohne Unternehmer“. Da sie keine Utopisten waren (und sind), schlossen sie ihrem Bild von ihrer Idealgesellschaft gleich die autoritäre Lösung des Problems der Verweigerung einer individuellen und kollektiven „Formierung“ an. Für sie bedeutet „Widerstand“ „die Einsetzung eines Unternehmers für den Gesamtbetrieb, d. h. der Übergang von der politischen Demokratie zu irgendeiner Form autokratischen oder totalitären Regimes“. Auch dafür wurden damals die Notstandsgesetze beschlossen.

Die KPD

Im gleichen Jahr (1965), in dem der CDU-Parteitag die Zielstellung „formierte Gesellschaft“ in ihr Programm schrieb, in dem die Bundestagswahl stattfand, aus der die CDU als Wahlsieger hervorging, stellte die illegale KPD in ihren Veröffentlichungen (unter erschwerten illegalen Bedingungen) fest, die Bevölkerung stehe dringender denn je vor der Frage, welchen Weg die Bundesrepublik gehen solle. Das Regierungsprogramm der CDU stelle einen weiteren „Generalangriff auf die Lebenshaltung und die Rechte des arbeitenden Volkes dar“. Doch wird die Lage der Bundesrepublik aber keineswegs allein von der reaktionären Regierung bestimmt. „Die Gewerkschaften, die Sozialdemokraten und Kommunisten, humanistische Geistesschaffende, christliche und liberale Friedensanhänger, demokratische Jugendverbände, sie alle, die sich dem den Frieden und die Demokratie gefährdenden Kurs widersetzen, sind eine große Kraft, die die Entwicklung zum Guten wenden kann.“ Und alternative Politik bedeute, so hieß es im Wahlkampfprogramm 1965 der KPD:

• Sozial sein heißt: jede soziale Demontage, auf welchem Gebiet auch immer, verhindern und statt dessen mit dem Abbau der riesigen Rüstungslasten beginnen.

• Demokrat sein heißt: Sich mit Entschiedenheit gegen jede Änderung des Grundgesetzes zur Wehr setzen, die Manipulation des Wahlrechts verhindern, das demokratisch-parlamentarische System im gesamten staatlichen Leben durchzusetzen.

• National sein heißt: Auf jede Form des Mitbesitzes oder der Mitverfügung an Atomwaffen verzichten, das Zustandekommen eines Atomsperrvertrages fördern, die im Ergebnis des Hitlerkrieges entstandenen Grenzen und die Existenz der DDR als Realität anerkennen, den Alleinvertretungsanspruch aufgeben, die Vorschläge der DDR zur Entspannung und Verständigung nicht mit einem sturen Nein beantworten. Wer den Frieden will, muss bereit sein, über die Minimalvorschläge, wie sie die DDR der Bundesregierung unterbreitet hat, zu verhandeln.

• Die gesamte Entwicklung erhärtet die Forderung nach Aufhebung des KPD-Verbots. Es wächst die Erkenntnis in allen Volksschichten, dass die Bundesrepublik zur Verteidigung der Demokratie, zur Erhaltung des Friedens, zur Sicherung des sozialen Besitzstandes und zur Hebung ihres Ansehens in der Welt eine legale KPD braucht.

Der nächste Schritt: die Große Koalition. Altes in neuen Kleidern?

Der Versuch, die „formierte Gesellschaft“ als Gesamtkonzept durchzusetzen, musste wegen dessen offenkundig autoritären und antisozialen Zügen zwangsläufig scheitern. Der gesellschaftstheoretische Inhalt dieser Konzeption ist dennoch in das praktizierte staatsmonopolistische Formierungsprogramm der Bonner Koalition von CDU/CSU und FDP eingegangen. Mit dem Übergang zur „Großen Koalition“ (1966) von CDU/CSU und SPD unter den CDU-Altnazi Kiesinger als Ausdruck der Krise des politischen Herrschaftssystems wurde nur eine weit flexiblere Taktik angewendet. In den Vordergrund traten die Propagierung und Begründung einzelner – teilweise modifizierter – Elemente einer „formierten Gesellschaft“, die sich vorrangig auf die Regulierung der Klassenbeziehungen konzentrieren.

Für viele bürgerliche Demokraten, selbst für konservative Bürger, bedeutete die Möglichkeit einer „großen Koalition“ von CDU/CSU und SPD den Tod der parlamentarischen Demokratie.

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"Die „formierte Gesellschaft“", UZ vom 9. Juni 2017



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