Utopische Literatur in der DDR – Teil 1

Dürfen Marxisten träumen?

Seit 1990 ist die utopische Literatur aus der DDR Geschichte, auch wenn eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren unter den neuen Verhältnissen ihre Arbeit fortsetzten. 41 Jahre zuvor, vier Jahre nach dem 8. Mai 1945, war im Berliner Dietz Verlag ein Buch des US-amerikanischen Sozialisten Edward Bellamy, „Rückblick aus dem Jahr 2000“, erschienen. Mit diesem Buch und dem im gleichen Verlag herausgegebenen Kurzroman „Die goldene Kugel“ des proletarischen Schriftstellers Ludwig Turek begann 1949 de facto die Tradition der utopischen Literatur in der DDR.

Herausgeber von Bellamys „Rückblick“ war Hermann Duncker. Die Edition von 1949 nutzte die Übersetzung von Clara Zetkin aus dem Jahr 1914 und enthielt auch ihre ursprüngliche Einleitung. Bellamys Buch war zuerst 1887 in Boston erschienen und wurde in den folgenden Jahren in viele Sprachen übersetzt. Darin erlebt der Held, Julian West, der Ende des 19. Jahrhunderts in einen hundert Jahre andauernden Schlaf fällt, nach seinem Erwachen im Jahr 2000 eine völlig veränderte Gesellschaft. Er macht sich auf, diese zu erkunden und stellt nach wenigen Wochen fest: „Wir genießen die Segnungen einer gesellschaftlichen Ordnung, die so einfach und logisch ist, dass sie der Triumph des gesunden Menschenverstandes zu sein scheint. Ich bin mir sicher, dass die Welt heute himmlisch ist, verglichen mit dem Zustand in früherer Zeit.“ Wie dieses Gemeinwesen erreicht wurde, wird nur vage beschrieben.

Wer das Buch heute liest, sollte nicht zu viel erwarten. Die Handlung ist ziemlich banal, Bellamys Vorstellung von der nötigen gesellschaftlichen Umwälzung waren naiv, aber er kannte, wie Duncker betonte, damals die Schriften von Marx und Engel ja auch kaum. Bellamys Frauenbild war auch nicht auf der Höhe: Weder auf der der proletarischen noch auch nur der bürgerlichen Frauenbewegung seiner Zeit.

Das Buch erregte jedoch in der Arbeiterbewegung große Aufmerksamkeit. Nicht nur in den USA. „Die Antwort nach dem Warum würde man vergeblich in der künstlerischen Bedeutung des Buches suchen“, schrieb Clara Zetkin. „Sie wird durch Zeitumstände und Zeitstimmung gegeben, denen der soziale Gedankengehalt des ‚Rückblick’ sympathisch sein musste. Krisen und Pleiteepidemien, Jahre voller Streiks, Arbeitslosendemonstrationen und blutige Zusammenstöße zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten hatten in den Vereinigten Staaten weiteren Kreisen zum Bewusstsein gebracht, dass in der gesellschaftlichen Organisation, dass in der Organisation der Arbeit ‚etwas’ zu verbessern sein müsse. Dieses Bewusstsein fand seinen Niederschlag in Bellamys Roman.“ Noch viele Jahre später hat Bellamys „Rückblick“ so manche und manchen an die sozialistische Bewegung herangeführt. 1949, nach den Erfahrungen der faschistischen Herrschaft und des Krieges, in der sich zuspitzenden Situation im Kalten Krieg war das Buch Anregung, über eine mögliche sozialistische Perspektive nachzudenken. Und auch zu träumen.

Aber dürfen Marxistinnen und Marxisten überhaupt träumen? Lenin bekannte sich zur Notwendigkeit „zu träumen“ und berief sich in „Was tun?“ auf Dimitri Pissarew (1840 bis 1868). Der junge russische revolutionäre Demokrat hatte schon Mitte des 19. Jahrhunderts gefordert: „Man muss träumen!“ Und er schrieb: „Meine Träume können dem natürlichen Gang der Ereignisse vorauseilen (…) Solche Träume haben nichts an sich, was die Schaffenskraft beeinträchtigt oder lähmt. Sogar ganz im Gegenteil.“ – „Träumen“, „Phantasie“, Vorstellungskraft, die reale Möglichkeiten „weiterdenkt“ und die Grenzen überschreitet, gehört zu den kreativen Fähigkeiten des Menschen. Phantasie ist Triebkraft menschlichen Erkennens und Handelns.

In der sowjetischen Besatzungszone und in der jungen DDR erschienen – neben Bellamys „Rückblick“ – bis 1950 nur wenige Science-Fiction-Bücher, zunächst meist Übersetzungen aus dem Russischen: 1946 „Der zehnte Planet“ von Sergej Beljaev, 1947 „Patent AV“ von Lazar Lagin. 1949 erschien, wie bereits erwähnt, Tureks „Die goldene Kugel“, der als erster utopischer Roman der DDR gilt. Er beschrieb darin eine Welt zunehmender Widersprüche zwischen Sozialismus und Kapitalismus, in der US-Imperialisten schließlich zu Atomwaffen greifen. Doch höher entwickelte Wesen von der Venus mischen sich ein …

Über die Autorin

Nina Hager (Jahrgang 1950), Prof. Dr., ist Wissenschaftsphilosophin und Journalistin

Hager studierte von 1969 bis 1973 Physik an der Humboldt-Universität in Berlin. Nach dem Abschluss als Diplom-Physikerin wechselte sie in das Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR und arbeite bis zur Schließung des Institutes Ende 1991 im Bereich philosophische Fragen der Wissenschaftsentwicklung. Sie promovierte 1976 und verteidigte ihre Habilitationsschrift im Jahr 1987. 1989 wurde sie zur Professorin ernannt. Von 1996 bis 2006 arbeitete sie in der Erwachsenenbildung, von 2006 bis 2016 im Parteivorstand der DKP sowie für die UZ, deren Chefredakteurin Hager von 2012 bis 2016 war.

Nina Hager trat 1968 in die SED, 1992 in die DKP ein, war seit 1996 Mitglied des Parteivorstandes und von 2000 bis 2015 stellvertretende Vorsitzende der DKP.

Hager ist Mitherausgeberin, Redaktionsmitglied und Autorin der Marxistischen Blätter, Mitglied der Marx-Engels-Stiftung und Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

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"Dürfen Marxisten träumen?", UZ vom 2. Juli 2021



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