Warum sind die deutschen Kapitalisten so beugsam?

Ein politisches Rätsel

Wie kommt es, dass die deutschen Kapitalisten den Nachteil durch den Wirtschaftskrieg mit Russland hinnehmen? Durch den Stopp russischen Erdgases in die EU ist dem größten Abnehmer Deutschland ein strategischer Vorteil im Konkurrenzverhältnis zu anderen kapitalistischen Ländern verlorengegangen. Anders als Erdöl, das weltweit zu ziemlich einheitlichen Preisen gehandelt wird, die sich auf einem Weltmarkt an wenigen Terminbörsen zwischen den Akteuren herausbilden, sind die Gaspreise in den verschiedenen Regionen der Welt unterschiedlich. Denn Gas kann oder konnte bis vor kurzer Zeit nicht über Tanker über die Weltmeere geschippert, sondern musste über Pipelines direkt von der Förderung zum Endverbraucher geliefert werden. Westeuropa bezog Gas aus Norwegen, den Niederlanden, Algerien (deren Gasproduktion zurückgeht) und vor allem Russland. Langfristige Lieferverträge und Pipelines haben bisher die sichere Versorgung mit Gas aus Russland zu stabilen Preisen ermöglicht.

Lucas Zeise1 sw NEU - Ein politisches Rätsel - Deutschland, Europäische Union, Kapitalismus, Russland, USA - Positionen

Der Preisvorteil zu den Verhältnissen in den USA (wo das teure und umweltschädliche Gas aus lokalem Fracking den Preis bestimmt) oder gar Japan (wo Gas fast ausschließlich als gekühltes und verflüssigtes LNG auf speziellen Tankschiffen aus Katar und Australien ankommt) war bislang erheblich. Für die Industrie Westeuropas und besonders Deutschlands bedeutete das dauerhafte Kostenvorteile gegenüber der Konkurrenz. Das galt besonders für die Chemieindustrie und einige andere Grundstoffindustrien wie die Düngemittel-, die Papier-, Glas- und Metallproduktion. Die in den vergangenen Monaten hektisch erstellten Studien über die schwierig gewordene Lage der Landwirtschaft, des Handwerks und der verarbeitenden Industrien zeigen, welche Auswirkungen die Energieverteuerung hat. Sie ist der wesentliche Treiber der Inflation in Westeuropa und damit der relativen Verarmung der Bevölkerung, was den Absatz im Inland schmälert.

Zuverlässige und billige Energie für Deutschland ist ein alter Streitpunkt zwischen Nachkriegswestdeutschland und den USA. Die erste Rednerschlacht im Bonner Bundestag über diese Frage gab es 1958. Konrad Adenauer machte dem ein Ende. Erst als in den 60er Jahren der Wind der Entspannungspolitik aus den USA herüberwehte, konnte das Gas-gegen-Röhren-Geschäft mit der Sowjetunion entwickelt und in den 70er Jahren realisiert werden. Der auf lange Frist angelegte Deal mit Russland war seitdem ein vom deutschen Kapital gepriesener Eckpfeiler deutscher Außen- und Wirtschaftspolitik. Aber die US-Politik änderte sich. Seit 2005 begann in den USA die Öl- und Gasförderung in großem Stil mittels des Frackingverfahrens. 2011 lösten die USA Russland als weltweit größten Gasproduzenten und 2018 Saudi-Arabien als größten Ölproduzenten ab. Seit 2019 exportieren die USA mehr Öl als sie importieren. Der „Spiegel“ kommentierte im März 2020 die Entwicklung so: „Donald Trump kann Sanktionen gegen den Iran verhängen oder gar einen Krieg riskieren, ohne dass der Ölpreis explodiert.“

Man sollte eher formulieren: US-Regierungen verstehen einen hohen Ölpreis mittlerweile mehr als Vor- denn als Nachteil. Noch mehr gilt das für den europäischen Gaspreis. Dass es billiges Gas aus Russland für die EU, vor allem aber für Deutschland nicht mehr geben darf, haben US-Regierungen und beide Häuser des US-Parlaments parteiübergreifend in den letzten Jahren immer wieder formuliert. Deutsche Regierungen vor Olaf Scholz haben sich gegen diese Zumutung im Interesse des deutschen Kapitals gewehrt. Nun ist diese Zumutung Realität. Die heimischen Kapitalisten murren zwar, aber sie beugen sich. Man kann nur vermuten, dass sie kalkulieren, dass sie diese Auseinandersetzung mit dem starken Freund im Westen nicht gewinnen können.

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Über den Autor

Lucas Zeise (Jahrgang 1944) ist Finanzjournalist und ehemaliger Chefredakteur der UZ. Er arbeitete unter anderem für das japanische Wirtschaftsministerium, die Frankfurter „Börsen-Zeitung“ und die „Financial Times Deutschland“. Da er nicht offen als Kommunist auftreten konnte, schrieb er für die UZ und die Marxistischen Blättern lange unter den Pseudonymen Margit Antesberger und Manfred Szameitat.

2008 veröffentlichte er mit „Ende der Party“ eine kompakte Beschreibung der fortwährenden Krise. Sein aktuelles Buch „Finanzkapital“ ist in der Reihe Basiswissen 2019 bei PapyRossa erschienen.

Zeise veröffentlicht in der UZ monatlich eine Kolumne mit dem Schwerpunkt Wirtschaftspolitik.

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"Ein politisches Rätsel", UZ vom 25. November 2022



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