Machtkampf in Kiew

Grenzen des Westens

Kolumne

Nach der gescheiterten Offensive 2023 gingen Waffenlieferungen der NATO-Länder an die Ukraine spürbar zurück. Die aggressivsten Scharfmacher werfen dem Westen inzwischen einen Mangel an Willen vor, die Ukraine zu unterstützen. Die Schuld für die sich abzeichnende Niederlage weisen sie jeweiligen politischen Konkurrenten zu. Real liegt es nicht am Willen. Die Waffenlager sind leer. Industrielle Kapazitäten, um schnell Ersatz zu produzieren, fehlen. „Der Boden des Fasses ist jetzt sichtbar“, sagte Rob Bauer, Chef des NATO-Militärausschusses 2023. Jetzt räumte die EU das Scheitern ihres Plans ein, der Ukraine bis März eine Million Schuss Artilleriemunition zu liefern. Nur die Hälfte kam zustande.

Für die USA haben jetzt Lieferungen nach Israel Priorität. Die ohnehin knappen Patriot Missiles brauchen sie, um ihre illegalen Stützpunkte in Syrien und Irak gegen die Huthis zu verteidigen. Der Zwang, Artilleriemunition und Patriot Missiles zu sparen, erhöht die Verluste der Ukraine. Noch schlimmer als Waffenmangel ist der Soldatenmangel. Videos, die zeigen, wie Männer auf offener Straße für die Front eingefangen werden, bis vor Kurzem als „russische Propaganda“ abgetan, sind heute in bürgerlichen Medien zu sehen. Seit Monaten im ukrainischen Parlament umstritten ist ein „Mobilisierungsplan“, mit dem in Etappen 500.000 Soldaten neu rekrutiert werden sollen, ein indirekter Hinweis auf die Höhe der Verluste.

Der Mobilisierungsplan ist so unpopulär, dass Selenski wie auch der Oberbefehlshaber der Streitkräfte Saluschnyj seit Wochen die Urheberschaft dem jeweils anderen in die Schuhe schieben. Ein schon lange zwischen ihnen schwelender Machtkampf brach offen aus und gipfelte am 29. Januar in Selenskis Versuch, Saluschnyj zum Rücktritt zu bewegen. Der lehnte ab. Der etablierte ukrainische Kriegsreporter Illia Ponomarenko twitterte auf X: „Saluschnyj hat die Unterstützung von 88 Prozent der Ukrainer. 97 Prozent vertrauen der Armee unter seinem Kommando (…). Sie würden gern – aber sie können es sich nicht leisten. Saluschnyj ist zu stark, um rausgekickt zu werden.“

Für den Fall der Entlassung Saluschnyjs sagt Ponomarenko Unruhe voraus. Saluschnyj, der gern vor Porträts des Hitler-Kollaborateurs Bandera posiert, hat beste Beziehungen zu Eliteeinheiten der ukrainischen Armee, die sich großenteils aus Asow-, Aidar- und Kraken-Bataillonen rekrutieren. Andererseits beurteilt er den Kriegsverlauf oft realistischer als Selenski, der stets von Sieg zu Sieg eilt, um die Geldgeber in den USA und der EU bei Laune zu halten. Selenski nahm dem Rivalen übel, dass er im Interview mit dem „Economist“ am 1. November 2023 ein „Patt“ an der Front diagnostizierte. Laut Seymour Hersh setzten im US-Geheimdienste-Militär-Komplex jene Kreise auf Saluschnyj, die den Frontverlauf gern „einfrieren“ würden, um eine Atempause für die Nach- und Aufrüstung zu erhalten.

Am 31. Januar weilte Victoria Nuland in Kiew. Danach informierte Selenski laut „Washington Post“ das Weiße Haus, er werde Saluschnyj entlassen. Im abendlichen TV-Auftritt sagte er nichts dazu. Kyrylo Budanow, der als Saluschnyjs Nachfolger gehandelt wird, ist nur bereit, wenn Saluschnyj freiwillig geht. Budanow ist kein Militär. Er ist Experte für „Spezialoperationen“, für Überwachung, Sabotage, Attentate, politische Morde. Für den Fall des Kollapses der ukrainischen Armee könnte er einen Übergang zum „Guerillakrieg“ vorbereiten. Planspiele dafür gab es schon vor dem Krieg. Als Nachfolger denkbar ist auch General Syrskyj, der bisher ebenfalls ablehnte.

In Nahost eskalieren die USA mit Raketensalven auf Syrien und den Irak. Der Machtkampf in Kiew ist eine Folge der Erschöpfung der ukrainischen Armee. Zugleich zeigt sich die Überdehnung des US-Imperiums und stößt die großspurige NATO- und EU-Ostexpansion an Grenzen.

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"Grenzen des Westens", UZ vom 9. Februar 2024



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