Herausforderung für die Friedensbewegung: NATO-Aggression gegen China und Russland und atomare Aufrüstung

Kramp-Karrenbauers Einkaufstour verhindern

Im Schatten der Corona-Pandemie werden Kriegseinsätze der Bundeswehr verlängert und ausgeweitet. Die Bundeswehr wird hochgerüstet, Rüstungskonzerne werden subventioniert. Die Vormachstellung der USA ist ökonomisch vor allem durch China bedroht. Gemeinsam mit ihren Verbündeten in der NATO erhöht sie den militärischen Druck auf Russland und China. Über die daraus resultierenden Gefahren und die Aufgaben der Friedensbewegung sprach UZ mit Lühr Henken, einem der Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag.

UZ: Die Corona-Pandemie hat die Welt „fest im Griff“. Die Zahl der Neuerkrankungen und derer, die an der Infektion gestorben sind, die ökonomischen Auswirkungen, die sozialen und antirassistischen Proteste in den USA und anderen Ländern bestimmen die Schlagzeilen. Ist das Friedensthema in diesen Krisenzeiten weniger wichtig geworden?

Lühr2 - Kramp-Karrenbauers Einkaufstour verhindern - Abrüsten statt Aufrüsten, Friedensbewegung, Friedenskampf - Hintergrund
Lühr Henken ist einer der Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag und ist aktiv in der Berliner Friedenskoordination

Lühr Henken: Nein, überhaupt nicht. Die Kriege unter anderem im Jemen, in Libyen, Syrien, dem Irak, in Afghanistan und Mali wurden fortgesetzt. Nur Berichte darüber gab es spürbar seltener. Die Bundesregierung hat genau eine Woche, nachdem die WHO am 11. März Covid-19 als Pandemie bezeichnet hat, in ihrer mittelfristigen Finanzplanung bis 2024 die Ausgaben für die Bundeswehr um 3 Prozent gegenüber der Planung aus dem Vorjahr angehoben. Sie hat diese Planung allerdings ausdrücklich unter den Vorbehalt gestellt, dass aufgrund eines unvorhersehbaren Pandemieverlaufs Änderungen erfolgen könnten. Ein Wirtschaftseinbruch um etwa 7 Prozent in diesem Jahr und eine Neuverschuldung in Höhe von bisher 217,8 Milliarden Euro sind große Veränderungen.

Ich warne aber davor, jetzt die Hände in den Schoß zu legen, weil man glaubt, Corona wird schon die Aufrüstung von Bundeswehr und NATO kippen, so wie es das US-/NATO-Großmanöver „Defender Europe 20“ erfreulicherweise zum großen Teil verhindert hat. Dem ist nicht so.

UZ: Das zeigt schon ein Blick in das Konjunkturpaket der Bundesregierung…

Lühr Henken: Genau, die Regierung beabsichtigt als Teil des Konjunkturprogramms, Rüstungsprojekte im Wert von 10 Milliarden Euro zeitlich in dieses und nächstes Jahr vorzuziehen. Von Sparen bei der Rüstung also keine Spur. Mitte Juni bewilligte der Haushaltsausschuss für den Bau von vier Mehrzweckkampfschiffen (MKS180) 5,6 Milliarden. Eins dieser Kriegsschiffe – ausgerichtet auf Großkonflikte – ist doppelt so teuer wie ein Exemplar des Vorgängermodells. Das MKS180-Projekt ist das kostspieligste deutsche Marineprojekt nach 1945.

Und das Verteidigungsministerium hat ausgerechnet die Corona-Krise dafür genutzt, die Bewaffnung von Drohnen voranzubringen. Augenscheinlich ist es ihm eilig damit, die Kampfdrohne „Heron TP“ und die in Entwicklung befindlichen „Eurodrohnen“ mit Bomben und Raketen auszustatten. CDU/CSU, FDP und AfD sowie Teile der SPD halten unbeirrt an ihrem Ziel fest, 2031 zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für die Bundeswehr auszugeben. Das wären dann mit etwa 100 Milliarden Euro doppelt so viel wie in diesem Jahr. Damit sollen Neuanschaffungen finanziert werden, die die Schlagkraft des Heeres verdoppeln und etwa die Hälfte der Luftwaffe erneuern sollen. Einen Tag, nachdem die WHO Covid-19 als Pandemie klassifizierte, äußerte Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer: „Im Schnitt bekommt die Bundeswehr jede Woche einen neuen Panzer, jeden Monat ein neues Flugzeug und jedes Jahr ein neues Schiff.“

„Im Schnitt bekommt die Bundeswehr jede Woche einen neuen Panzer, jeden Monat ein neues Flugzeug und jedes Jahr ein neues Schiff.“

Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer am Tag
nachdem die WHO Covid-19 als Pandemie klassifizierte.

UZ: Das Institute for Economics and Peace (IEP) hat im kürzlich veröffentlichten jährlichen Global Peace Index darauf verwiesen, dass die ökonomischen Auswirkungen der Pandemie, die sich teilweise erst mittelfristig zeigen werden, negative Folgen für den Frieden in vielen Ländern haben könnten. Wie groß ist die Gefahr, dass sich die inneren Widersprüche in einer Reihe von Staaten oder Regionen so zuspitzen, dass neue kriegerische Konflikte entstehen?

Lühr Henken: Die Pandemie hat vielerorts ihren Höhepunkt noch nicht erreicht – etwa in Südasien, Afrika, Lateinamerika und im Nahen und Mittleren Osten. Eine zweite Welle kann hier und woanders noch kommen. Schon jetzt führt der Rückgang der Wirtschaftsleistung weltweit zu mehr Arbeitslosigkeit, größerer sozialer Ungleichheit, aber auch zu einer Zunahme des Hungers. Wenn deswegen nun weniger statt mehr für Entwicklung ausgegeben wird und das Spendenaufkommen zur Bekämpfung des Hungers einbricht, muss zunehmend mit mehr gewaltsam ausgetragenen Konflikten nach innen und nach außen gerechnet werden.

Helfen könnte hier konkret, die Umschuldungen der besonders fragilen Länder zu lockern, aber auch überfüllte Flüchtlingslager aufzulösen, indem Asylverfahren beschleunigt und anerkannte Geflüchtete in EU-Ländern aufgenommen werden. 2019 waren weltweit 79,5 Millionen Menschen auf der Flucht. Ein beschämender Höchststand der Fluchtbewegung – und das alles noch vor der Corona-Pandemie.

UZ: Die Außen- und Sicherheitspolitik der USA macht friedliche Konfliktlösungen derzeit fast unmöglich. Trump kündigt ein Rüstungskontrollabkommen nach dem anderen, droht anderen Staaten und belegt sie mit Sanktionen. Mit Blick auf China und Russland drohen da noch ganz andere Gefahren, oder?

Lühr Henken: Ja. Die USA sind die einzige globale Macht. Ihr Instrument: Herrschaft ihres Militärs und des Dollars als Weltleitwährung. Aber ihre Machtstellung wird ökonomisch bedroht. Die EU und China sind wirtschaftlich schon in etwa gleich stark geworden und seriöse Prognosen sagen voraus, dass die chinesische Wirtschaftsleistung in 30 Jahren um 45 bis 70 Prozent über der der USA liegen wird. Die weltumspannende Seidenstraßeninitiative Chinas, die eine kooperative Entwicklung nicht nur Eurasiens, sondern auch des Nahen und Mittleren Ostens, Südamerikas und Afrikas anstrebt, ist den USA ein Dorn im Auge. Sie sehen ihre Vormacht insbesondere durch China bedroht.

Sie setzen auf Sanktionen und Aufrüstung, indem sie ihr militärisches Ziel, einer „Full Spectrum Dominance“ im Weltraum, in der Luft, über und unter Wasser, an Land und im Cyberraum weiterverfolgen. Wichtige Elemente dafür sind die Militarisierung des Weltraums, die Modernisierung des Atomwaffenarsenals und ihrer Trägersysteme, der Ausbau der weltumspannenden Raketenabwehrsysteme, die Entwicklung Künstlicher Intelligenz und von Hyperschallwaffen.

UZ: Rüstungsabkommen scheinen den USA regelrecht lästig zu sein. Kannst du einen kurzen Überblick geben?

Lühr Henken: Lästig, ja das kann man so sagen. Der ABM-Vertrag störte bei der Entwicklung von Raketenabwehrsystemen, der INF-Vertrag hinderte an der Stationierung von Raketen und Marschflugkörpern vor Chinas Küste. Da die USA dafür gesorgt haben, dass es ihn nicht mehr gibt, können Startvorrichtungen für US-Raketenabwehrraketen in Rumänien und Polen für den Start von konventionell bestückten Marschflugkörpern gegen Russland genutzt werden. Der Ausstieg der USA aus dem Open-Skies-Vertrag verhindert eine Kontrolle von Rüstungsvorhaben in den USA, das Ende des New-Start-Vertrages im Februar 2021 schafft die Voraussetzung dafür, Russland ein kostspieliges strategisches nukleares Wettrüsten aufzuzwingen.

Dazu kommt die konventionelle Überlegenheit der NATO. Sie verfügt gegenüber Russland und seinen Verbündeten in der OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit) über dreimal so viele Soldaten, über das 3,8-Ffache an Kampfflugzeugen, das 5,3-Ffache an Kampfhelikoptern und das Doppelte an Kampfpanzern im aktiven Dienst. Flankiert von Wirtschaftssanktionen (zum Beispiel gegen North-Stream 2) ist all das darauf angelegt, Russland zu destabilisieren, ja, zu erpressen, um ein möglichst US-gefälliges Regime in Moskau zu etablieren. Idealerweise wünscht Washington, dass sich dieses willfährige Russland zusammen mit der EU und den USA gegen die Volksrepublik China in Stellung bringt.

UZ: Welche Rolle spielt dabei die atomare Aufrüstung?

Lühr Henken: Die Drohung mit Atomwaffen ist real. Sie werden von USA und NATO in ihrer Sprengkraft so verringert, dass sie tatsächlich einsetzbarer werden. Neuestes Element sind die auf U-Booten stationierten nuklearen W76–2-Sprengköpfe, die auf Trident II-Interkontinentalraketen montiert sind. Diese „Mini-Nukes“ treffen sehr präzise und haben eine Sprengkraft, die bei der Hälfte der „Hiroshima-Bombe“ liegt. Die USA haben davon bisher 50 in ihrem Arsenal.

UZ: Welche Rolle spielt es in diesem Zusammenhang, dass nach wie vor US-Truppen, vor allem aber Atomwaffen, auf deutschem Boden in Büchel stationiert sind? Die Bundesrepublik beteiligt sich trotz aller Bekundungen, auf Gespräche und Verhandlungen setzen zu wollen, weiter an NATO-Manövern, die gegen Russland gerichtet sind. Mit dem Kauf von F/A-18-Bombern hält man auch am Ziel der atomaren Teilhabe fest.

Lühr Henken: Ich denke, das spielt eine große Rolle in der Angriffsplanung. Die USA sind das einzige Land, das Nuklearwaffen außerhalb ihres Territoriums stationiert hat – und diese vor der Haustür Russlands. Es sind Fallbomben, die von Kampfbombern des jeweiligen Stationierungsstaats ins Ziel transportiert werden. In der Türkei lagern 50, in Italien 2 mal 20 und in den Niederlanden, Belgien und Büchel/Eifel jeweils 20 Sprengköpfe. Diese Fallbomben des Typs B61–3 oder -4 werden ab 2024 durch solche des Typs B61–12 ersetzt. Dieser Typwechsel schafft eine auf wenige Meter genaue Treffgenauigkeit und die Fähigkeit, mehrere Meter tief ins Erdreich einzudringen, um unterirdisch verbunkerte Ziele zu zerstören. Kramp-Karrenbauer will ab 2025 als Ersatz für die Tornado-Atombomber der Bundeswehr 30 F/A-18 „Super Hornet“ als Atombombenträger und 15 F/A-18 „Growler“ als Begleitkampfflugzeuge zur Zerstörung gegnerischer Luftabwehrstellungen in den USA kaufen. Die Kosten für die Beschaffung sind spekulativ. Sie reichen von etwa 100 bis 250 Millionen Euro pro Maschine, also von 4,5 bis über 11 Milliarden Euro für 45 F/A-18. Die Kosten für den Lebenszyklus liegen schätzungsweise viermal so hoch. Die F/A-18 haben eine Reichweite von 720 Kilometern.

Und nun kommen wir zur eigentlichen Gefährlichkeit. Von deutschem Boden aus ist ohne Zwischenstopp das Kaliningrader Gebiet erreichbar. Erfolgt eine Betankung der Atombomber in den Baltischen Staaten, so könnten Ziele in St. Petersburg und Moskau präzise mit Atombomben angegriffen werden.

UZ: Was sind angesichts dieser Gefahren die Herausforderungen für die Friedensbewegung hierzulande? Was sind – jetzt sind ja anders als zu Ostern wieder größere Aktionen möglich – die Schwerpunkte für die nächsten Wochen und Monate?

Lühr Henken: Ich denke, es muss darum gehen, diesen exorbitanten Wahnsinn der Anschaffung neuer Atombomber für die Bundeswehr zu verhindern. Kramp-Karrenbauer ist sich sicher, die Maschinen in den USA kaufen zu können und auch die Erlaubnis für das Tragen von Atombomben zu erhalten. Sie will mit den US-Herstellern einen Vertrag aushandeln. Man geht davon aus, dass vor dem Frühjahr 2022 im Bundestag keine Entscheidung für den Kauf dieser Jets gefällt wird. Das wäre der Zeitrahmen, um eine Aufklärungs- und Verhinderungskampagne ins Leben zu rufen. Ansätze gibt es bereits bei ICAN, Greenpeace und „atomwaffenfrei. jetzt! Büchel ist überall“. Hier muss der 75. Jahrestag der US-Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki für Protest genutzt werden.

Die ebenso wichtige Herausforderung stellt die kolossale Aufrüstungsplanung der Bundeswehr dar. Die bundesweite Kampagne „abrüsten statt aufrüsten!“ darf bei gesammelten 165.000 Unterschriften nicht stehen bleiben. Hierfür bietet der 1. September mit dem Antikriegstag/Weltfriedenstag mit Demonstrationen, Kundgebungen und Info-Ständen einen erstklassigen Anlass für Unterschriftensammlungen. Eine weitere gravierende Herausforderung stellt das deutsche Rüstungsexportgebaren dar. Im vergangenen Jahr wurden Exportgenehmigungen für über 8 Milliarden Euro erteilt – ein Rekordwert! Die „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel“ braucht ebenso Unterstützung wie der Einsatz für die Konversion von Rüstungsproduktion für zivile Güter.

Darüber hinaus kommt die Entscheidung über die Bewaffnung von Drohnen bis zum Herbst in eine entscheidende Phase. Im Zentrum muss stehen, den SPD-Abgeordneten im Bundestag ins Gewissen zu reden, damit sie sich gegen das Vorhaben aussprechen – und nicht umkippen, wonach es im Moment aussieht. Es gibt also viel zu tun.
Um das weitere Vorgehen auf vielfältigen Feldern und in den Schwerpunkten zu beraten, stecken wir in den Vorbereitungen unseres 27. Friedensratschlags an der Uni in Kassel am 5. und 6. Dezember 2020. Inwiefern er physisch oder/und digital durchgeführt werden kann, steht allerdings noch nicht fest.

Das Gespräch führte Nina Hager

Über die Autorin

Nina Hager (Jahrgang 1950), Prof. Dr., ist Wissenschaftsphilosophin und Journalistin

Hager studierte von 1969 bis 1973 Physik an der Humboldt-Universität in Berlin. Nach dem Abschluss als Diplom-Physikerin wechselte sie in das Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR und arbeite bis zur Schließung des Institutes Ende 1991 im Bereich philosophische Fragen der Wissenschaftsentwicklung. Sie promovierte 1976 und verteidigte ihre Habilitationsschrift im Jahr 1987. 1989 wurde sie zur Professorin ernannt. Von 1996 bis 2006 arbeitete sie in der Erwachsenenbildung, von 2006 bis 2016 im Parteivorstand der DKP sowie für die UZ, deren Chefredakteurin Hager von 2012 bis 2016 war.

Nina Hager trat 1968 in die SED, 1992 in die DKP ein, war seit 1996 Mitglied des Parteivorstandes und von 2000 bis 2015 stellvertretende Vorsitzende der DKP.

Hager ist Mitherausgeberin, Redaktionsmitglied und Autorin der Marxistischen Blätter, Mitglied der Marx-Engels-Stiftung und Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin.

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"Kramp-Karrenbauers Einkaufstour verhindern", UZ vom 10. Juli 2020



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