Zu Hermann Kants nachgelassenen Erzählungen und Essays

Leben auf hoher Verarbeitungsstufe

Als Hermann Kant 2011 schwer erkrankt in die Klinik Neustrelitz eingeliefert wurde, geschah das in einem kritischen Zustand, in dem ihn Freunde entdeckt und Hilfe geholt hatten. Die Heilung dauerte sieben Wochen; man gestattete dem Schriftsteller einen Computer, zur Therapie sozusagen. Entstanden sind die wichtige Erzählung „Ein strenges Spiel“ und der Titel für den Band, der unter der sachkundigen Herausgeberschaft der einfühlsamen Journalistin Irmtraud Gutschke zusammengestellt wurde, die schon das Interview in Buchform „Hermann Kant. Die Sache und die Sachen“ (2007) veröffentlicht hatte und ihm sachlich-freundlich wie kritisch auf Widersprüche zielend begegnete. Durch sie, die Kant vertrauensvoll und klardenkend entgegentrat, ist der neue Band zu einem Nachlassband Kants geworden, weniger durch die Texte, die bereits in Zeitungen und Zeitschriften – „Neues Deutschland“ und „Konkret“ und anderen – erschienen sind, sondern durch den Blick, der sich auf Kants selbstgestellten Schreibauftrag ergab.

Auslöser zum Schreiben war für ihn sein Erlebnis des Zweiten Weltkrieges, das entstehende Wissen um Vernichtung und Verbrechen durch Deutsche und seine polnische Gefangenschaft. Kants Handlungen sind oft aus diesem traumatisierenden Erlebnis zu erklären: „Ich dachte nicht daran, ich denke nicht daran, mich zu beklagen. Doch versuchte ich, das, was ich sah, gegen die mörderische, die ganz und gar verderbliche Unwissenheit weiterzusagen.“ (21) Betraf das den Inhalt der von ihm geschriebenen Literatur, so erklärte er daraus auch die von ihm verwendeten gestalterischen Mittel: „… die Art meines Schreibens kam zustande, weil ich in keiner Idylle war.“ (28)

Die Erzählung „Ein strenges Spiel“ veröffentlichte Kant 2014 als Eigendruck und verschickte sie an „gute Freunde“. Darin verabschiedete er sich vom Schreiben. In dem Text kommt die Schreibkunst Kants nochmals zur Geltung, mit ihrer Doppeldeutigkeit und ihrem Spielzwang, der die Buchstaben einbezog und aus dem „Bademantel“ den „Baadermantel“ werden ließ. Doch nur der konnte mitspielen, der auch das nötige Wissen einbrachte; auch auf Kants Leserbild ließ sich aus dem Text schließen. In der Erzählung schildert er die eingangs angedeutete Rettungsaktion, die ihn als 85-Jährigen betraf und bei der erinnert wurde, was sein Leben an schrecklichen Erfahrungen von Beginn an bestimmt hatte, aber auch, was dieses Leben zu einem sinnvollen machte: Es ist die Zeit, als Linde Salber, die an der Rettung Kants beteiligt war, ihre Kant-Biografie schrieb (vgl. ­Marxistische Blätter 2014, Heft 4). Ihr Vorsatz, Hermann Kants Bild, „das nach der Vereinigung arg beschädigt worden war, endlich zurechtzurücken“ (Salber), wird durch diese Erzählung und den Band präzisiert und durch Irmtraud Gutschkes Nachwort auf eindringliche Weise kommentiert.

In Situationen, die nicht heiter sind, blitzt manchmal die vitale Ironie Kants durch, so wenn er bekennt, dass er seit der Frauenfußballweltmeisterschaft „merklich genderoffener“ denke. Nebenbei wendet er sich gegen die, die seinen Sturz nach 1989 begeistert bejubelten, ohne einen Gedanken auf Ursachen seines Lebens und Handelns zu verschwenden oder nach den literarischen Leistungen zu fragen und die auch nach diesem Band wieder in wilde Tiraden ausbrechen.

Von 1989 bis 2014 schrieb Kant weiter, nicht mehr so heiter, auch war seine gefeierte Ironie in Sarkasmus umgeschlagen; die Leser folgten nach wie vor den glitzernden und irisierenden Sprachspielen und der lakonischen Hintergründigkeit des Autors, die nach wie vor faszinierten. Bei aller Euphorie, mit der das Publikum Kants Romane begleitete, übersah man oft, dass sich auch Skepsis fand. In der Ironie des Schriftstellers klang auch Melancholie mit, von der er auch in diesem Band spricht (111). Sein Leben wollte er auf einer „Loipe“ führen, zwischen Start und Ziel, planmäßig, zielstrebig und schnell, am Ende musste er sich eingestehen, „im Göpelzirkel geht es voran“ (110), im Kreis, voller Wiederholungen und letztlich ziellos (geworden), aber nicht nutzlos.

Über Anlass und Ziel für sein Schreiben hatte er nicht nur in seinen Romanen berichtet, dort immer wieder von der Leichtigkeit des Überstandenen geprägt, sondern auch in unbekannteren Berichten wie „Die Zeit und ihre Zeugen“ (2005). Hier geht es nicht um das Ende des Schreibens, sondern um den Beginn. Statt in bildhaft variantenreicher Sprache, berichtet er sachlich und nüchtern von seiner Flucht vor den Sowjettruppen im Januar 1945, er ist zuerst vor ihnen her „und bald in ihrem Rücken, nach Westen gerannt oder gekrochen“. Das war der fast beiläufige Auftakt von Kants Gefangenschaft, in der ihm bei aller Belastung und Bedrückung klar wurde, wer verantwortlich war und welche Verbrechen die Ursachen für die Beeinträchtigungen waren, unter denen er und andere litten: Seine Taten ließen ihn zum Mitschuldigen werden; über diese Taten der Deutschen schreibt er so nüchtern, dass kein Platz für ein illustrierendes Attribut bleibt: Die Fakten beschreiben „mörderische Effizienz“. Auf der Straße, auf der Kant in Gefangenschaft geriet, hatte man vier Jahre zuvor in „rollenden Gaskammern siebenhundert Juden aus Kolo ermordet“, es war eine der kleinsten Zahlen in der von Kant aufgelisteten Verbrechenstatistik. Die Folge war, dass aus dem deutschen Wehrmachtsangehörigen ein antifaschistischer Schriftsteller wurde, der in seinen Büchern sein prägendes Grunderlebnis benannte. Denkt man an den Schriftsteller Hermann Kant, muss das zuerst erinnert werden, seine beeindruckende Leistung, wie er aus seiner Schuld der Teilnahme am Krieg die Verantwortung für die Sühne ableitete und diese dann auch im Sinne einer neuen Gesellschaft zu leben versuchte. Der Vorsatz war bei diesem Ausmaß von Verbrechen so außergewöhnlich, dass Bemühungen scheiterten, Fehler auftraten, aber keine grundsätzlichen Irrtümer: Der Antifaschismus war etwas Ungewohntes. Er ist ein sicherer Maßstab, um sich der Verantwortung zu stellen, die nach wie vor ansteht und sich in der Frage spiegelt, ob man geschossen hätte, wenn man in die Situation gekommen wäre. Die Frage ist aktuell und „jeder Tat gehe eine Idee voraus“ (116). Kant blieb seiner Idee treu, das reizte seine Widersacher nach 1989 noch mehr.

Neben dem Schreibauftrag für sich, den Kant an seinem Ursprung beschreibt, und der Bestimmung der Funktion von Literatur, die sich nicht in Unterhaltung erschöpft, sondern auch Analyse des Handelns und Programm des Lebens sein möchte, ging es dem Schriftsteller um Funktionen der Literatur, die in der Zeit von Kants größter Wirksamkeit besonders hoch gehalten wurden und woraus sich die offizielle Aufmerksamkeit für Literatur entwickelte, die auch zu ihrer kritischen Beobachtung führte, an der Kant ebenso Anteil hatte wie er oft genug sich schützend vor Literatur und Literaten stellte. Stärker als früher wird Literatur nun als anspruchsvolles Spiel beschrieben, folgend dem Leben als einem „strengen Spiel“.

Schließlich werden, mindestens einige, „Gesinnungsnachbarn“ genannt, mit denen Kants schöpferischer Geist umzugehen pflegte, durchaus im widerspruchsvollen Dialog: Wolfgang Borchert und Thomas Mann, Günter Grass und Erwin Strittmatter, über allen jedoch Heinrich Heine als unerreichter Kronzeuge für eine „angewandte Literatur“. Das letzte Interview Irmtraud Gutschkes mit Kant, das ihr eingangs genanntes gemeinsames Buch rundet, und ihr erhellendes Nachwort über Kants „Traum und Enttäuschung, Schmerz und Schutzzauber“ beschließen den Band.

Die Texte Kants sind sowohl eine Anleitung für die Lektüre der Werke des Schriftstellers als auch ein Programm, wie durch Literatur Ansprüche an die Mitgestaltung der Gesellschaft gestellt werden. Sie führen auch eine junge Generation an die nach wie vor bleibenden Hauptwerke Kants, von der Aula über den Aufenthalt und Impressum bis zu Kino und Abspann – um nur einige Titel zu erinnern –, heran. – Am Ende stehe ein Spruch, ein Lehrsatz aus diesem Buch Kants, der zu den vielen Sprüchen gehört, die es enthält und die das Ergebnis eines sinnvollen, engagierten und kämpferischen Lebens sind: „Literatur, das ist ein anderes Wort für Ausweg.“ Hermann Kant starb 2016; er wäre am 14. Juni 2021 95 Jahre geworden.

Hermann Kant
Erzählungen und Essays
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Irmtraud Gutschke
Berlin, Aufbau-Verlag 2021
160 S., 22,- Euro

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Über den Autor

Rüdiger Bernhardt (Jahrgang 1940). Nach dem Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Skandinavistik und Theaterwissenschaft (Prof. Dr. sc. phil.) tätig an Universitäten des In- und Auslandes und in Kulturbereichen, so als Vorsitzender der ZAG schreibender Arbeiter in der DDR, als Vorsitzender der Gerhart-Hauptmann-Stiftung (1994-2008) und in Vorständen literarischer Gesellschaften. Verfasser von mehr als 100 Büchern, Mitglied der Leibniz-Sozietät, Vogtländischer Literaturpreis 2018.

Er schreibt für die UZ und die Marxistischen Blätter Literaturkritiken, Essays und Feuilletons zur Literatur.

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"Leben auf hoher Verarbeitungsstufe", UZ vom 30. Juli 2021



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