Der IGH hat zum Krieg in der Ukraine geurteilt – anders, als es deutsche Medien vermitteln

Selbsternannte Rechtsexperten

Am 16. März ordnete das höchste Gericht der Vereinten Nationen, der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag, mit 13 gegen 2 Stimmen an, „die russischen militärischen Operationen im Gebiet der Ukraine (seien) unverzüglich einzustellen“. Mit einem nicht unklug gewählten juristischen Konstrukt hatte die Ukraine mit ihrer Klage gegen Russland am 26. Februar die Zuständigkeit des IGH herbeigeführt.

Der IGH ist grundsätzlich nur dann zuständig, wenn sich beide Parteien der Gerichtsbarkeit des Gerichts unterworfen haben. Das ist weder für Russland noch für die Ukraine der Fall. Die Ukraine griff daher in ihrem Antrag einen der von russischer Seite für die Intervention genannten Gründe auf, die Verhinderung eines Genozids im Donbass, und begehrte die Feststellung, dass dies kein Grund für eine Intervention sei.Da beide Staaten die „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ vom 9. Dezember 1948 unterschrieben haben und Artikel 9 der Konvention vorsieht, dass Streitfälle vor dem IGH ausgetragen werden, wurde die Zuständigkeitshürde überwunden.

Gegen den unter Vorsitz der US-amerikanischen Richterin Joan E. Donoghue (frühere außenpolitische Beraterin von Hillary Clinton) gefassten Beschluss stimmte neben dem Vize-Präsidenten des IGH, Kirill Geworgjan, auch die chinesische Richterin Xue Hanqin, die dem Gericht seit zwölf Jahren angehört. In ihrem abweichenden Votum befürwortete sie den sofortigen Stopp aller militärischen Aktionen in der Ukraine und richtete den Appell an beide Seiten, unmittelbar wieder Frieden herzustellen. Auf der Grundlage des geltenden Völkerrechts sei der IGH indes für die Klage der Ukraine nicht zuständig, denn die Völkermordkonvention enthalte nicht den Kern des Problems: Russland habe sich in seiner umfangreichen Klageerwiderung ausdrücklich nicht auf die Frage des Genozids im Donbass bezogen, sondern sein Handeln mit der „Wahrnehmung seines Selbstverteidigungsrechts“ gemäß Artikel 51 UN-Charta begründet. Dafür spräche auch die Einkreisungspolitik des Westens.

Die bürgerliche Journaille, seit Wochen ununterbrochen mit dem Finger am Abzug, wird durch solche Differenzierungen offensichtlich mental überfordert. Die „Zeit“ titelte am 7. März „Russland muss sich vor UN-Gericht wegen Genozids verantworten“, in der „Tagesschau“ vom 16. März hieß es: „Kiew wirft Russland eine Verletzung der Völkermordkonvention vor“. Treffsicher so formuliert, damit der Eindruck entsteht, der Krieg in der Ukraine falle unter den Tatbestand des Genozids. Jeder, der auch nur oberflächlich die Presseerklärung des IGH zum Fall „Ukraine vs. Russian Federation“ überflogen hat, weiß es besser: Tatsächlich geht es in der Klageschrift der Ukraine allein darum, dass Russland den Genozid im Donbass nicht als Grund für seinen Einmarsch in der Ukraine anführen dürfe.

Die selbsternannten „Rechtsexperten“ in den Redaktionen bemerken noch nicht einmal, dass es um eine vorläufige, im Eilverfahren getroffene Anordnung („provisional measure“) geht und nicht um ein abschließendes Urteil. Einstweilige Anordnungen im beschleunigten Verfahren ergehen ohne ausführliche Beweisaufnahme. Die bleibt stets dem noch anhängigen Hauptverfahren vorbehalten. Bis zu einer abschließenden Entscheidung können, wie es nicht unüblich ist, Jahre vergehen. Das Weltgericht kann seine am 16. März getroffene Entscheidung ohnehin nicht selbst vollstrecken, sondern müsste hierzu nach Artikel 94 Abs. 2 UN-Charta den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen anrufen. Zu einer Beschlussfassung muss die Zustimmung aller Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates vorliegen. Dass die Volksrepublik China und Russland eine solche Maßnahme mittragen würden, ist mehr als unwahrscheinlich.

Über den Autor

Ralf Hohmann (Jahrgang 1959) ist Rechtswissenschaftler.

Nach seinen Promotionen im Bereich Jura und in Philosophie arbeitete er im Bereich der Strafverteidigung, Anwaltsfortbildung und nahm Lehraufträge an Universitäten wahr.

Er schreibt seit Mai 2019 regelmäßig für die UZ.

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"Selbsternannte Rechtsexperten", UZ vom 25. März 2022



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