EU-Gipfel befasste sich mit verändertem Kräfteverhältnis in der Welt und dem Kriegskurs gegen Russland und Belarus

„Strategische Schrumpfung“ und Aggression

Mitten in einer Krisensituation versammelten sich am 16. Dezember die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten – Selbstbezeichnung „Europäischer Rat“ – zu einem Routinegipfel in Brüssel. An ihm nahm erstmals der neue deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) teil. Auf der Tagesordnung standen unter anderem die Pandemielage, Sicherheit und Verteidigung, „externe Aspekte der Migration“ sowie die sogenannte östliche Partnerschaft.

Der verschärft aggressive Kurs des Imperialismus gegenüber China und Russland schlug sich im Abschlussdokument der Tagung nieder. Dort heißt es: „Angesichts der weltweit wachsenden Instabilität, des zunehmenden strategischen Wettbewerbs und komplexer Sicherheitsbedrohungen wird die EU mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit und im Verteidigungsbereich übernehmen, eine strategische Vorgehensweise verfolgen und ihre Fähigkeit zum autonomen Handeln steigern.“ Das Vorhaben soll auf der Grundlage eines Dokuments erfolgen, dessen Entwurf der Außenrepräsentant der EU, Josep Borrell, im November vorgelegt hatte. Dieser „Strategische Kompass“ soll auf dem nächsten EU-Gipfel im März 2022 verabschiedet werden. Das Papier lässt nichts Gutes ahnen. Es geht davon aus, dass „Europa in Gefahr ist“, weil es einer „strategischen Schrumpfung“ unterliege. Erstens vermindere sich sein Anteil an der Weltwirtschaftsleistung von 25 Prozent vor 30 Jahren auf jetzt zehn Prozent. Ende des Jahrhunderts würden in EU-Europa noch 5 Prozent der Weltbevölkerung wohnen. Außerdem verträten einige wirtschaftliche Konkurrenten andere Werte als die EU und stellten „eine Bedrohung für unsere normative Kraft“ dar. Das müsse im „Wettbewerb“ um die „Vorherrschaft bei künstlicher Intelligenz, Cloud Computing, Halbleitern und Biotechnologie“ berücksichtigt werden.

Zweitens sei die „strategische Arena der EU zunehmend umkämpft“. Die Zeiten seien vorbei, „in denen Krieg und Frieden zwei klar voneinander getrennte Zustände darstellten“. Drittens werde „die politische Sphäre der EU eingeengt und unsere liberalen Werte werden zunehmend in Frage gestellt“. Die „Annahme, dass wirtschaftlicher Wohlstand immer zu demokratischen Entwicklungen führt, wurde widerlegt“.

Im Klartext: Den relativen Abstieg des Imperialismus beantwortet die EU nicht mit einem Schwenk zu einer Politik von Dialog und Entspannung, sondern mit Aggression. Sie strebt nicht nur ideologische Hegemonie an, sondern ermächtigt sich auch, die Normen für Krieg und Frieden zu setzen. Was 1999 mit der Selbstmandatierung im Angriffskrieg gegen Serbien und Montenegro begann, ist heute Konzept für den EU-Umgang mit der Welt.

Das schlug sich in den Stellungnahmen des Gipfels zur Kriegsvorbereitung gegen Russland und Belarus nieder. So behaupteten die Staatschefs bar jeder Fakten, es gebe einen „hybriden Angriff seitens Belarus“ gegen die EU. Daher sei es wichtig, deren Außengrenzen wirksam zu schützen und „unverzüglich restriktive Maßnahmen“ zu ergreifen. Russland, dem der Rat die Schuld für die gegenwärtigen Spannungen zuschob, wird gedroht: „Jede weitere militärische Aggression gegen die Ukraine wird massive Konsequenzen und hohe Kosten nach sich ziehen, einschließlich mit Partnern abgestimmter restriktiver Maßnahmen.“ NATO-Manöver und Provokationen des Kriegspakts an der russischen Grenze kommen in solchem Lagebild nicht vor.

So weit, so verlogen. Weil aber keine Aussage etwa zu Waffenlieferungen an die Ukraine getroffen wurden – deren Präsident war extra nach Brüssel gekommen, um das zu erreichen –, war die Bürgerpresse unzufrieden. Die „FAZ“ analysierte, schon Angela Merkel habe es „zuletzt nicht mehr geschafft, den Kurs der EU gegenüber Moskau und Peking zu prägen“. Scholz scheine „daran nahtlos anknüpfen zu wollen“. So habe er die Gasleitung Nord Stream 2 als privates Projekt bezeichnet. Dabei habe Merkel immerhin auf Druck Joseph Bidens im Juli erklärt, die Bundesregierung werde sich für Sanktionen einsetzen, falls Russland „Energie als Waffe“ einsetze. Aus „FAZ“-Sicht ist das der Fall. Scholz soll nachlegen.

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"„Strategische Schrumpfung“ und Aggression", UZ vom 24. Dezember 2021



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