Ukraine greift russische Nuklearabwehr an

Wahnsinn mit Vorsatz

Siegfried Zimmermann

Zunächst herrschte Schweigen. In einer Medienwelt, in der jedes unbedeutende Klatschfoto als „Eilmeldung“ durchs Netz gejagt wird, berichtete kaum eine deutsche Zeitung darüber, dass mit den ukrainischen Angriffen auf Russlands Nuklearabwehr eine neue, hochgefährliche Phase des Krieges eingeleitet wurde.

Bereits am Donnerstag der vergangenen Woche soll die ukrainische Armee eines der russischen „Woronesch“-Radare beschädigt haben. Am Sonntag brüstete sich der ukrainische Geheimdienst mit einem Langstreckendrohnen-Angriff auf ein zweites System. Eine offizielle Stellungnahme der russischen Regierung lag bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe von UZ am Dienstag nicht vor. Internationale Berichte gingen aufgrund von Satellitenbildern jedoch von erheblichen Schäden aus.

Zu Wochenbeginn hatten sich die niedersten deutschen Presseerzeugnisse von ihrer Sprachlosigkeit erholt. Die „Bild“ freute sich über den „Mega-Schlag gegen Putins Atom-Abwehr“. Der Münchner „Merkur“ lobte die „Rekord-Reichweite“ der Drohne, mit der „Putins Riesen-Radar“ zerstört worden sei. Das sei der „nächste spektakuläre Schlag (…) gegen das Moskau-Regime“. In gewisser Weise dürfen sich die Deutschen glücklich schätzen. Auch noch am Rande des Abgrunds wird ihnen in gewohnter Manier der Endsieg versprochen, werden die am schwersten wiegenden Fehler der eigenen und verbündeten Kriegstreiber zu Heldentaten verklärt.

Denn in Wahrheit handelte es sich bei den Angriffen auf die „Woronesch“-Radare um einen beabsichtigten Akt des Wahnsinns. Wie verschiedene Militärexperten zu Wochenbeginn bestätigten, bringt die Beschädigung der Anlagen keinen militärischen Vorteil für die Ukraine. Es handelt sich um Langstreckenradare, die der frühzeitigen Warnung vor US-amerikanischen Atomschlägen dienen. Sie sollen sicherstellen, dass der Führung in Moskau noch genug Zeit bleibt, um einen Gegenschlag auszulösen, wenn Interkontinentalraketen und Atombomber im Anflug sind – Waffensysteme, über die die Ukraine überhaupt nicht verfügt. Zugleich dürfte es sich aber auch nicht um einen unüberlegten Beschuss gehandelt haben. Denn Langstreckendrohnen sind rar, die Ziele penibel ausgewählt. Außerdem ist nur schwer vorstellbar, dass die ukrainische Führung einen solchen Angriff allein durchführen würde.

Schnell wurden begründete Spekulationen laut, dass die USA den Angriff angeordnet oder zumindest genehmigt hatten. Der frühere russische Botschafter bei der NATO, Dmitri Rogosin, bezeichnet die „Woronesch“-Radare als „Schlüsselelement der militärischen Steuerung der strategischen Nuklearstreitkräfte“. „Wenn solche feindlichen Aktionen nicht gestoppt werden, wird ein unumkehrbarer Zusammenbruch der strategischen Sicherheit der Atommächte beginnen“, erklärte er gegenüber RT. Der norwegische Militärexperte Thord Are Iversen sagte auf „X“: „Es gibt eine Handvoll Ziele, die man vermeidet, und dies gehört dazu.“

In Moskau dürften nun die Überlegungen laufen, wie darauf zu reagieren ist. Der Angriff „könnte die Bedingungen erfüllen, die Russland im Jahr 2020 öffentlich für gegnerische Angriffe festgelegt hat, die einen nuklearen Vergeltungsschlag auslösen könnten“, stellte der österreichische Offizier und Militärhistoriker Markus Reisner im Interview mit „Telepolis“ fest. Die Lage sei erstens „überaus ernst“ und zweitens sei der „Krieg um die Ukraine neuerlich eskaliert“.

Während also die Warnungen vor der atomaren Eskalation des Krieges zunahmen und einige Kommentatoren die „Rote Linie“ bereits als überschritten ansahen, forderte die NATO ihre Mitglieder zu Wochenbeginn auf, dem ukrainischen Regime zu erlauben, vom Westen gelieferte Waffen für Angriffe auf das russische Territorium zu nutzen. Deutsche Politiker wie Anton Hofreiter (Grüne) hatten dies schon vorher gefordert und damit weiter Öl ins Feuer gegossen.

Wer wohlwollend ist, hofft, dass der Westen mit Selenski einen „Madman“ („Verrückten“) installieren will, um die eigene Unberechenbarkeit zu verdeutlichen. Die Alternative ist, dass die erneute Eskalation des Krieges selbst der Zweck der Aktion war. In beiden Fällen ist es höchste Zeit, die gefährlichen Abenteuer der NATO-Kriegstreiber zu beenden.

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"Wahnsinn mit Vorsatz", UZ vom 31. Mai 2024



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