Ergebnislose Tarifverhandlung für den hessischen Einzelhandel

Streiken hilft

Von Horst Gobrecht

Wenn Tarifverhandlungen wie am 27. April für den Einzelhandel in Hessen im Nichts enden, die Arbeitgeber weder Verständnis für die schwierige Lage vieler Beschäftigter noch für die Forderung nach deutlicher Erhöhung der Gehälter und Ausbildungsvergütungen aufbringen wollen; wenn der Handelsverband Hessen über Niedriglöhne in bestimmten Unternehmen jammert, es aber gleichzeitig ablehnt, mit ver.di gemeinsam beim Hessischen Sozialministerium zu beantragen, dass die Tarifverträge des Einzelhandels künftig in allen Geschäften gleichermaßen gelten; wenn die Arbeitgeber in Baden-Württemberg und Bayern bei einer Preissteigerungsrate von etwa 2 Prozent nur Lohnerhöhungen um 1,5 Prozent anbieten und dadurch einen Kaufkraftverlust der Beschäftigten bewusst einkalkulieren; wenn zudem vor und während eines Arbeitskampfes die Führungskräfte in den Belegschaften gezielt die Angst vor Entlassung, ja sogar vor einer angeblichen Filialschließung schüren. Wenn dies alles über die Beschäftigten wie ein Gewitter hereinbricht – dann haben sie allen und guten Grund, sich zu wehren, die Arbeit niederzulegen und für ihre Rechte, ihre Zukunft und die ihrer Kinder auf die Straße zu gehen. Denn in solchen Situationen ist nicht darauf zu hoffen, dass die Arbeitgeber von sich aus und ohne Hilfe von außen „vernünftig“ werden.

Doch es gab bei der ersten Tarifverhandlung auch Drolliges. So kam erneut der Tarifvertrag „Warenverräumung“ zur Sprache. Hierbei handelt es sich um eine Vereinbarung – ein Kompromiss bei der Verteidigung des Manteltarifvertrages im Jahr 2013 –, die abgeschlossen wurde, weil die Unternehmer vorgaben, das meistens von Billigstkräften im Werkvertrag oder als Leiharbeiter erledigte Auffüllen der Regale wieder „in den Tarifvertrag zurückführen“ zu wollen.

Nur unter dieser Bedingung sollte es ihnen tariflich erlaubt sein, solche Beschäftigten zum Stundenlohn von 10,18 Euro statt der fürs Warenverräumen ansonsten üblichen 12,85 Euro (aktuelle Tarifsätze) einzustellen. Die Einzelhändler verpflichteten sich, diese „Umwandlung“ von häufig gerade mal zum Mindestlohn zu tarifvertraglich bezahlten Angestellten schriftlich gegenüber ver.di anzuzeigen.

Noch zwei Jahre später war die Anzahl der „umgestellten“ Filialen (Tegut und Real) derart gering, dass in der Tarifverhandlung 2015 die Nachfrage berechtigt erschien, ob diese Vereinbarung sich wirklich als „praxistauglich“ erwiesen hätte. Wer daraufhin die Reaktion der Unternehmer hörte, durfte den Eindruck haben, allein schon der geringste Zweifel daran würde den Untergang des Handels heraufbeschwören.

Wieder wurde allgemein die Notwendigkeit gerade dieses Tarifvertrages beteuert, seine herausragende zukünftige Bedeutung hochgelobt und jedes Kratzen von ver.di an dieser tarifpolitischen „Errungenschaft“ als Frevel zurückgewiesen. Nun gut, dadurch sollte die dauerhafte Entwicklung des hessischen Einzelhandels weder gebremst werden noch gänzlich scheitern:

Was (fast) nicht angewandt wird, tut auch keinem Beschäftigten weh – bringt allerdings auch keinen Auffüller in Leiharbeit oder im Werkvertrag weg vom Mindestlohn.

Wieder vergingen Jahre, ohne dass sich an der bestehenden Situation etwas Nennenswertes änderte. Also wurde am 27. April 2017 erneut höflich – wie sonst gegenüber derart „sensiblen“ Unternehmern? – darauf hingewiesen, dass der Tarifvertrag „Warenverräumung“ sich trotz aller Hochstimmung von 2013 und 2015 immer noch nicht durch eine breitere Anwendung auszeichne. Als ob er schon das Herannahen des Angriffs auf die händlerische Zivilisation erwartet hätte, baute der Handelsverband Hessen sofort seine Abwehr auf: Es sei „viel zu früh“, diesen Tarifvertrag „abzuschreiben“. Seine „Karriere“ oder „Bestimmung“ beginne sich gerade erst abzuzeichnen, weil die gesetzlichen Neuerungen beim Einsatz von Werkverträgen und Leiharbeitern (befristete Beschäftigung und irgendwann Bezahlung wie das Stammpersonal – vielleicht!) die Unternehmer zum Nachdenken gebracht hätten. Der Tegut-Vertreter bei den Tarifverhandlungen zeigte sofort die Umstellung in allen hessischen Filialen bis zum 30. Juni dieses Jahres an. Und sogar Rewe, bisher zwar unumstrittener „Förderer“ dieses Tarifvertrages, aber selbst äußerst enthaltsam bei dessen Anwendung und Auflösung der Werkverträge, will bereits „Berechnungen“ angestellt haben, wie diese tariflichen Regelungen genutzt werden könnten.

An diesem etwas sonderbar anmutenden Beispiel wird deutlich, wie Unternehmer „ticken“: Sie möchten kein tarifpolitisch „erobertes“ Gebiet mehr abgeben. Selbst auf die Gefahr hin, sich durch die hemmungslosen Beteuerungen der Notwendigkeit des Tarifvertrages „Warenverräumung“ alle Jahre wieder lächerlich zu machen, halten sie daran fest, weil sie vielleicht hoffen, mit ihm den üblichen Tariflohn für Auffüller unterlaufen und aushöhlen zu können. Erste Versuche, diesen um 2,67 Euro niedrigeren Stundenlohn (aktuelle Tarifsätze siehe oben) als „reguläre“ Bezahlung für Warenverräumer „einzuführen“, gab es schon unmittelbar nach Abschluss des Tarifvertrages 2013. ver.di wird deshalb höllisch aufpassen müssen, dass unter dem Druck gesetzlicher Änderungen diese Bezahlung in den Unternehmen des Einzelhandels nicht plötzlich durch die „Hintertür“ eingeführt wird, ohne dass dadurch die Billiglöhner im Werk- oder Leiharbeitsvertrag verschwinden.

Vor diesem Hintergrund können sich die Beschäftigten sicher vorstellen, wie viel Energie, Durchhaltevermögen und Streikbereitschaft sie entwickeln und zeigen müssen, um ihre Tarifziele 2017 zu erreichen. Der Anfang ist mit ersten Streiks und Aktionen am 5. Mai in Frankfurt, am 6. Mai in Südhessen und am 13. Mai hessenweit in Wiesbaden mit Streikenden aus 21 Betrieben gemacht. Da ist aber noch mehr drin – und auch Stärkeres nötig, wenn die Unternehmer von einem Euro Lohnsteigerung je Stunde, deutlich höheren Ausbildungsvergütungen sowie allgemeinverbindlichen Branchentarifverträgen genauso „begeistert“ sein sollen, wie sie es vom Tarifvertrag „Warenverräumung“ waren und sind. Die Kräfte zur Durchsetzung sind vorhanden, sie arbeiten in den Betrieben und gehen gemeinsam auf die Straße.

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"Streiken hilft", UZ vom 26. Mai 2017



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