Neue Gewaltausbrüche in Syrien

Unkontrollierbar

Nach einer kurzen Phase zwischen Schock, Entspannung und Ungewissheit werden die Weichen für die weitere Entwicklung Syriens gestellt. Massaker treffen die Alawiten und Angehörige anderer Minderheiten in den Küstenstädten. Mit radikalen Maßnahmen sollen staatliche Unternehmen privatisiert, Subventionen für Brot, Brennstoff und andere Versorgungsgüter abgeschafft und die Belegschaften der Verwaltung massiv reduziert werden. Es ist neoliberale Politik par excellence.

107 staatliche Industrieunternehmen außerhalb des Energie- und Transportbereiches sollen privatisiert werden. Tausende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter staatlicher Unternehmen haben bereits ihren Arbeitsplatz verloren. Landesweit gab es Proteste gegen die Entlassungen. Organisiert werden sie über Social Media.

In Damaskus hatten Ende Februar 600 Teilnehmer der Konferenz des „Nationalen Dialogs“ auf Einladung des Übergangspräsidenten zwei Tage lang über die Inhalte einer künftigen neuen Verfassung diskutiert. Die Erwartungen waren nicht hoch, die Ergebnisse blieben noch darunter. Die Versammlung war so kurzfristig einberufen worden, dass keine Zeit für eine gründliche Vorbereitung blieb. Potentielle Teilnehmer aus dem Ausland wie der bekannte Oppositionelle George Sabra konnten wegen der fehlenden Vorbereitungszeit nicht teilnehmen. Wie der politische Prozess weitergehen soll, blieb unbeantwortet.

Dennoch hatte die Versammlung hehre Worte gefunden. Wieder einmal wurde die Souveränität und Einheit Syriens beschworen, weit entfernt von der Realität des Landes, mit der Besetzung durch die Türkei im Norden, durch Israel im Süden und mit den Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen der Kurden.

Eine Vertretung für alle Menschen in Syrien sollte es geben, unabhängig von Religion, Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit. Doch in einer Orgie der Gewalt begannen tags darauf Truppen des neuen Innenministeriums, mindestens tausend, vermutlich aber mehr zum größten Teil unbewaffnete Menschen in den Küstenstädten zu töten. Infrastruktur wie Krankenhäuser wurde zerstört, Hilfslieferungen wurden unterbrochen.

Der Übergangspräsident al-Sharaa hatte zuvor mit Vertretern fast aller ethnischen und religiösen Gruppen in Syrien gesprochen – nicht aber mit Vertretern der Alawiten. Nach Beginn der Massaker in Tartus und Latakia erklärte er lediglich, die Regierung verfolge Reste des Regimes und werde sie vor Gericht bringen.

Tausende Syrer, überwiegend Alawiten, waren zu dieser Zeit bereits vor den Massakern geflohen. Viele in die Umgebung ihrer Heimatorte, Tausende auf den russischen Militärstützpunkt Chmeimim. Eine Untersuchungskommission soll jetzt Schuldige benennen. Doch das Innenministerium setzt seine Angriffe fort.

Für den israelischen Militärminister Israel Katz war es eine gute Gelegenheit, weitere israelische Aktionen anzudrohen. Israel werde in den neu besetzten Gebieten in Syrien verbleiben und sich gegen jede Bedrohung verteidigen. Israel droht sogar mit einem Einmarsch in Dscharamana, einen südlichen Vorort von Damaskus – zum „Schutz der Bevölkerung der Drusen“.

Der alawitische „Islamische Rat“, eine Gruppe von alawitischen Geistlichen, machte die neue Regierung für den Gewaltausbruch verantwortlich. Die „Verfolgung von Resten des Regimes“ sei nur ein Vorwand, um die Syrer zu terrorisieren und zu töten. Der Rat forderte internationalen Schutz für die Küstenregion.

Die Sponsoren der Dschihadisten in NATO und Golfstaaten und ihre einflussreichen Förderer in Syrien haben zum Umbau des Landes ein System geschaffen, das sie nicht kontrollieren können.

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"Unkontrollierbar", UZ vom 14. März 2025



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