Tarifrunde im Öffentlichen Dienst endet mit Kompromiss und höherem Organisationsgrad

Unverzichtbare Erfahrungen, um weiter zu kämpfen

In der gesamten Tarifrunde für den Öffentlichen Dienst waren die Widersprüche in dieser Gesellschaft für die Streikenden und Beschäftigten deutlich erkennbar. Der Widerspruch zwischen Milliardensummen zur Rettung von Unternehmen dort und der Forderung nach einer Nullrunde hier; der Widerspruch zwischen verbaler Lobhudelei und konsequenter Verweigerungshaltung, zwischen Beifallklatschen und sich zunehmend verschlechternden Arbeitsbedingungen in der Pandemie; der Widerspruch zwischen dem Betonen der sicheren Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst bei gleichzeitig höherer Befristungsquote als in der Privatwirtschaft, steigendem Kostendruck sowie Privatisierung und Outsourcing.

Diese Widersprüche haben dort, wo sie von Kolleginnen und Kollegen und ver.di-Aktiven thematisiert wurden, zu starker Mobilisierung geführt. Das gilt insbesondere für die Krankenhäuser, wo das falsche Finanzierungssystem und die über die Tarifrunde hinausgehenden Forderungen nach Entlastung und mehr Personal immer mitdiskutiert wurden. Das zeigt, wie wichtig es gewesen wäre, die massive Umverteilung von unten nach oben in der Wirtschaftskrise, verstärkt durch die Corona-Pandemie, in dieser Tarifrunde zu thematisieren. ver.di im Bund vermied es aber von Anbeginn, die Frage „Wer zahlt für diese Krise?“ auf die Tagesordnung zu setzen. Dieser Zusammenhang, der in vielen Betrieben präsent war, hätte der Tarifrunde eine andere Dimension geben und auch den Rückhalt in der Bevölkerung stärken können.

Diese vertane Chance, gesellschaftlichen Druck aufzubauen, in Kombination mit den steigenden Corona-Zahlen hat die Arbeitgeber ermutigt, mit einem unsäglichen Angebot in die dritte Verhandlungsrunde zu starten. Auch das ausgehandelte Ergebnis bewegt sich für den Großteil der Beschäftigten eher in der Liga eines Inflationsausgleichs, als dass es wirkliche Einkommenssteigerungen abbildet.

Passend zur großen Streikbereitschaft in den Krankenhäusern und anderen Gesundheitseinrichtungen sticht das Ergebnis für die Beschäftigten in der Pflege heraus. Auch wenn die Beispiele mit 8 bis 10 Prozent Lohnsteigerungen nicht für alle Arbeitsbereiche in der Pflege gelten, findet in diesem Bereich ein nennenswerter Lohnsprung statt – und zwar nicht nur in den Krankenhäusern, sondern auch in der Altenpflege und Teilen der Behindertenhilfe. Diese Steigerungen sind angemessen, ignorieren aber den großen Anteil nicht pflegender Beschäftigter, die die Arbeit in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen erst ermöglichen. Laborbeschäftigte, Reinigungskräfte, Therapeuten und viele mehr erhalten ausschließlich die allgemeine Lohnerhöhung.

Auf der Haben-Seite steht, dass in dieser Tarifrunde wertvolle Kampferfahrungen gemacht wurden. Darunter die Erfahrung, auf einen Verband Öffentlicher Arbeitgeber zu stoßen, der eine harte Politik gegen die Beschäftigten macht und diese auch gegen die zu Beginn vorherrschende öffentliche Meinung zugunsten der Streikenden durchzusetzen bereit war. Damit hat er die Beschäftigten zu auch wirtschaftlich relevanten Streiks gezwungen, an deren Ende eine Stärkung der betrieblichen Strukturen steht. Auf die gilt es nun aufzubauen – und zwar nicht erst bei der nächsten Tarifrunde.

Das Mittel der Arbeitsstreiks und die darin erfolgte direkte und oftmals hoch politische Ansprache von zehntausenden Kolleginnen und Kollegen und die Organisierung betrieblicher Strukturen – von Telegram-Gruppen bis zu betrieblichen Arbeitskampfleitungen mit vielen neuen Aktiven – hat die Basis der Arbeitskämpfe verändert. Dass diese Basis noch nicht direkt in die gewerkschaftlichen Entscheidungsgremien wie die Bundestarifkommission einbezogen war, die den Mitgliedern die Annahme der Einigung empfiehlt, ist nicht verwunderlich. Die Erfahrungen mit der konkreten Organisation und Verantwortung im Streik vor Ort werden über die Tarifrunde hinauswirken. Sie bilden ein erstes Fundament für die kommenden politischen und betrieblichen Kämpfe – sei es, um weitere Abwälzungen der Krisenkosten abzuwenden, sei es, um für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen zu ringen oder um fehlende Schutzausrüstungen und Tests in der Pandemie.

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"Unverzichtbare Erfahrungen, um weiter zu kämpfen", UZ vom 30. Oktober 2020



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