Nach dem Tarifabschluss im öffentlichen Dienst stehen im Herbst Verhandlungen für die Landesbeschäftigten an

„ver.di wird politischer“

Nach massiven Warnstreiks wurde für die Beschäftigten von Bund und Kommunen Mitte Mai ein Tarifvertrag (TVöD) auf Basis einer Schlichtungsempfehlung abgeschlossen. Noch im Herbst diesen Jahres sollen die Verhandlungen für die Landesbeschäftigten (TV-L) beginnen, in diesen Tagen läuft die Forderungsdiskussion an. Insgesamt arbeiten über fünf Millionen Menschen im öffentlichen Dienst. Ein Rück- und Ausblick auf die Tarifrunden mit Martin Koerbel-Landwehr, Mitglied der ver.di-Bundestarifkommission öffentlicher Dienst und Stellvertretender Personalratsvorsitzender der Uniklinik Düsseldorf.

UZ: Die ver.di-Bundestarifkommission hat dem Tarifabschluss im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen Mitte Mai „mit großer Mehrheit“ zugestimmt. Bei einer Mitgliederbefragung hatten sich 66 Prozent für das Verhandlungsergebnis ausgesprochen. Wie fällt deine persönliche Einschätzung des Ergebnisses aus?

Martin Koerbel-Landwehr: Die Tariferhöhung gleicht die Inflation der Jahre 2022 bis 2024 nicht aus und natürlich ist die Laufzeit zu lang. Ein besseres Ergebnis, das gerade für die unteren Entgeltgruppen erforderlich gewesen wäre, wäre aber nur mit einem intensiven und langen Erzwingungsstreik zu erreichen gewesen.

Es gab eine große Beteiligung an den Warnstreiks. Erfreulich war insbesondere die Beteiligung in den großen Städten und in wichtigen Betrieben. So war gerade an den Flughäfen in Frankfurt oder München eine sehr kämpferische Stimmung. Dort, wie auch in verschiedenen Krankenhäusern oder bei der Abfallentsorgung, hätte man mehr erwartet und sich auch mehr zugetraut.

Bundesweit war aber die Beteiligung nicht überall so groß. Daher war die Mehrheit der Bundestarifkommission öffentlicher Dienst der Meinung, dass nach dem Ergebnis der Schlichtung und der Rückmeldung aus den Betrieben kein deutlich besseres Ergebnis durch einen Streik zu erreichen sei. Dies wurde auch durch das Ergebnis der Mitgliederbefragung bestätigt. Es gab keine Euphorie, aber in allen Bereichen eine mehrheitliche Zustimmung.

In dieser Runde wurden erfreulicherweise neue starke Strukturen geschaffen und erste Erfahrungen im gemeinsamen Arbeitskampf gesammelt. Die Mischung aus betrieblichen Streiks und Aktionen, gemeinsamen Streiktagen in den Bezirken und bundesweiten Streiktagen wie im Verkehrsbereich war für viele der Kolleginnen und Kollegen neu. Auf diese Erfahrungen kann in zukünftigen Kämpfen hoffentlich aufgebaut werden, damit wir dann ein besseres Ergebnis durchsetzen.

UZ: Die sogenannte „Inflationsausgleichsprämie“ wurde von ver.di im Vorfeld der Tarifverhandlungen kritisiert. Nun ist sie ein wichtiger Bestandteil des Abschlusses – sowohl im öffentlichen Dienst als auch bei der Post. Nach der Einigung hieß es von ver.di, dass die Beschäftigten dieses Geld quasi „bar auf die Hand“ bekommen würden. Wie wirkt es sich aus, wenn die „Prämie“ anstatt von tabellenwirksamen Lohnerhöhungen gezahlt wird?

Martin Koerbel-Landwehr: Sicher, schöner wär‘s wenn’s schöner wär. Es stellte sich tatsächlich aber nicht die Frage des „Anstatt“. Die Bundesregierung hat bewusst dieses vergiftete Angebot gemacht, um in allen Branchen langfristig wirkende hohe Tariferhöhungen zu verhindern. Die Arbeitgeber, und dies waren eben auch der Bund und die Kommunen, haben diese Vorlage dankbar aufgenommen. Sie hätten keiner weiteren tabellenwirksamen Erhöhung ohne Erzwingungsstreik zugestimmt.

Insofern war entscheidend, dass kurzfristig die Beschäftigten mehr Geld in die Taschen bekommen und die anschließende Tariferhöhung netto nicht weniger ausmacht als die vorherigen Zahlungen. Dieses kleine Ziel wurde erreicht. Bei der langen Laufzeit hätte aber die Erhöhung gerade für die unteren Entgeltgruppen deutlich höher ausfallen müssen. Das gesteckte Ziel des Mindestbetrages von 500 Euro wurde nicht erreicht. Es wäre sicher besser gewesen, wenn die Inflationsausgleichsprämie auf eine satte Lohnerhöhung oben drauf gekommen wäre.

UZ: Noch in diesem Jahr steht die Tarifrunde im öffentlichen Dienst der Länder an. Bund, Länder und Kommunen arbeiten sehr stark mit dem Argument, dass die Staatskassen leer und Lohnerhöhungen deshalb nicht zumutbar seien. Dieses Argument wird euch sicher auch begegnen – gerade auch mit Blick auf die weiterhin hohe Inflation. Wie geht ihr damit um?

Martin Koerbel-Landwehr: Schon in der TVöD-Runde gab es dieses Argument. Aber die Beschäftigten haben sich in der Auseinandersetzung nicht blenden lassen. Es sind Milliarden für Rettungsschirme, Corona-Maßnahmen oder Kriegsmaterial und Aufrüstung vorhanden. Daher haben die Beschäftigten auch für sich einen Ausgleich für die hohe Inflation gefordert. Selbst die Öffentlichkeit hat die ungewöhnlich hohe Forderung verstanden. In der Tarifrunde der Länder werden wir hinter der TVöD-Forderung nicht zurückbleiben können. Denn trotz aller anderslautenden Behauptungen steigen die Preise und die Mieten weiter.

UZ: Was werden inhaltliche Schwerpunkte der Tarifrunde sein?

Martin Koerbel-Landwehr: Noch hat die Forderungsdiskussion nicht begonnen. Erst in den nächsten Tagen wird die Bundestarifkommission den Startschuss geben. Aber die aktuellen Diskussionen nach dem TVöD-Abschluss zeigen, dass die ver.di-Mitglieder – gerade auch in den Uni-Kliniken – nicht den Anschluss verlieren wollen. Damit wird auch die Forderung nach deutlichen Entgeltsteigerungen im Mittelpunkt stehen. Der Abschluss im TVöD ist dabei eine Messlatte.

UZ: Die Tarifrunden im öffentlichen Dienst haben ja immer die Besonderheit, dass sie sehr politisch sind. Ihr habt erst im letzten Jahr mit den Entlastungsstreiks an den Unikliniken direkt in den Landtagswahlkampf eingegriffen. Und auch beim Tarifkampf im öffentlichen Dienst hat die Verkehrswende eine starke Rolle gespielt, es gab gemeinsame Streiks mit Umweltgruppen und der EVG. Müsste ver.di nicht noch politischer werden und im Tarifkampf die Milliarden in den Fokus rücken, die – wie du gesagt hast – in diesem Land zum Beispiel für Waffenlieferung und Aufrüstung ausgegeben werden?

Martin Koerbel-Landwehr: ver.di wird immer politischer. Ich habe in der Vergangenheit nicht erlebt, dass mit Umweltgruppen ein Streiktag gestaltet oder der gesamte Verkehrssektor unter Beteiligung der Flughäfen bestreikt wird. In den Veröffentlichungen und den betrieblichen Diskussionen wird auch der Zusammenhang zu politischen Entscheidungen hergestellt.

Zum Tarifbereich der Länder gehören neben den Beschäftigten in den Landesverwaltungen auch die angestellten Lehrkräfte, die Universitäten und die Uni-Kliniken. Nicht alle Betriebe sind bekanntlich gleich arbeitskampffähig, daher ist die Verknüpfung von betrieblicher Stärke und Aktionsfähigkeit mit den öffentlichen Diskussionen entscheidend für einen Erfolg. Diese Tarifrunde wird auch durch die gesellschaftliche Debatte mit entschieden. Daher ist eine Unterstützung von vielen gesellschaftlichen Gruppen für einen Erfolg eminent wichtig. In dieser Debatte wird sicher auch die Frage der Finanzierung und der gesellschaftlichen Schwerpunktsetzung diskutiert. Was sind der Gesellschaft zum Beispiel die Schulen, die Hochschulen oder die Uni-Kliniken wert? Will man eine gute Bildung und Gesundheitsversorgung, muss man auch die Beschäftigten angemessen entlohnen.

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Über den Autor

Lars Mörking (Jahrgang 1977) ist Politikwissenschaftler. Er arbeitete nach seinem Studium in Peking und war dort Mitarbeiter der Zeitschrift „China heute“.

Mörking arbeitet seit 2011 bei der UZ, zunächst als Redakteur für „Wirtschaft & Soziales“, anschließend als Verantwortlicher für „Internationale Politik“ und zuletzt – bis Anfang 2020 – als Chefredakteur.

 

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"„ver.di wird politischer“", UZ vom 16. Juni 2023



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