Verbrechergeschwätz

Mit der Vorsilbe „Ur“ beschreibt man das Erste, oder den Anfang von etwas. Wenn man also dem folgen würde, was Annalena Baerbock der Menschheit beziehungsweise dem Publikum beim Festakt zum 25. Geburtstag des Internationalen Strafgerichtshof weiszumachen versuchte, dann gab es vor dem 24. Februar letzten Jahres keine Verbrechen. Denn im Zusammenhang mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine redet Baerbock von einer „Lücke“ im Völkerrecht. Das „Urverbrechen“ könne nicht geahndet werden.

Das Völkerrecht will Baerbock deswegen schleunigst ändern. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Grünen-Politikerin sich nach dieser Änderung ihren Parteifreund und Amtsvorgänger Joseph Fischer auf der Anklagebank in Den Haag vorstellt oder einen ehemaligen US-Präsidenten (der vermutlich Bush mit Nachnamen heißen würde).

Nein, verfolgt werden soll allein der russische Präsident. Da es keinerlei Mehrheiten für die Änderung des Römischen Statuts, also der völkerrechtlichen Grundlage für den Internationalen Strafgerichtshof, gibt, kann Baerbock lange darauf warten. Deswegen setzt sie auch lieber auf juristisch abstruse Sondertribunale nach ukrainischem Recht und mit irgendeiner Form internationaler Beteiligung. Ob die Ukraine Richter oder Austragungsort des Schauprozesses sein soll, in solchen Kleinigkeiten will man sich nicht festlegen.

Stattdessen bemühte Baerbock mal wieder die armen Kinder: „Seit ich von diesen Verbrechen gehört habe, kann ich nicht aufhören, mir vorzustellen, wie es wäre, würde es meinen beiden Töchtern so ergehen.“ Mit „so ergehen“ meint sie übrigens, vor den ukrainischen Angriffen mit NATO-Waffen in Sicherheit gebracht zu werden. Denn was Baerbock und ihre Kollaborateure als Kindesentführung darstellen, ist die Evakuierung besonders umkämpfter Gebiete, wie zum Beispiel die Donezker Volksrepublik.

Die deutschen Medien und Politiker quer durch die Parteienlandschaft haben Baerbocks Fantasterei vom Urverbrechen dankbar aufgegriffen. Es ist ja auch zu schön, wenn man endlich wieder hemmungslos gegen den Russen hetzen kann, diesmal perverserweise sogar aus „deutscher Verantwortung“.

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Über die Autorin

Melina Deymann, geboren 1979, studierte Theaterwissenschaft und Anglistik und machte im Anschluss eine Ausbildung als Buchhändlerin. Dem Traumberuf machte der Aufstieg eines Online-Monopolisten ein jähes Ende. Der UZ kam es zugute.

Melina Deymann ist seit 2017 bei der Zeitung der DKP tätig, zuerst als Volontärin, heute als Redakteurin für internationale Politik und als Chefin vom Dienst. Ihre Liebe zum Schreiben entdeckte sie bei der Arbeit für die „Position“, dem Magazin der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend.

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"Verbrechergeschwätz", UZ vom 21. Juli 2023



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