Ludwig Feuerbachs Leibniz-Lektüre begleitete die Herausbildung seiner materialistischen Anschauungen

Vom Blumenstaub zum Wachs

Am 13. September jährt sich zum 150. Mal der Todestag Ludwig Feuerbachs. Seine Rolle für die Entwicklung des Marxismus ist hinlänglich bekannt. „Da kam Feuerbachs ‚Wesen des Christenthums‘. Mit einem Schlag zerstäubte es den Widerspruch, indem es den Materialismus ohne Umschweife wieder auf den Thron erhob. Die Natur existiert unabhängig von aller Philosophie; sie ist die Grundlage, auf der wir Menschen, selbst Naturprodukte, erwachsen sind; außer der Natur und den Menschen existiert nichts, und die höhern Wesen, die unsere religiöse Fantasie erschuf, sind nur die fantastische Rückspiegelung unsers eignen Wesens. Der Bann war gebrochen; das ‚System‘ war gesprengt und beiseite geworfen, der Widerspruch war, als nur in der Einbildung vorhanden, aufgelöst.“ So schildert Friedrich Engels eindrücklich die Wirkung von Feuerbachs Hauptwerk. (MEW 21, S. 272)

Das System, von dem Engels hier spricht, ist das Hegelsche. Er beschreibt, wie die Junghegelianer über die Religionskritik durch den notwendigen Rückgriff auf den französischen Materialismus in Widerspruch zu Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770 bis 1831) Idealismus geraten waren. Dies ist entscheidend für Feuerbachs Wirkung, hat er doch gerade Hegel und die Religion, konkret das Christentum, kritisiert. Doch zuvor war Feuerbach selbst überzeugter Hegelianer gewesen, seine Ansichten hatten sich erst im Verlauf seines philosophischen Weges herausgebildet. Das wirft die Frage auf, welche Einflüsse bei der Entwicklung vom Idealisten zum Materialisten auf ihn gewirkt haben. Ein Philosoph, dessen Lektüre Feuerbach in dieser Phase begleitet hat, ist Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 bis 1716). Während Feuerbach andere Größen der frühneuzeitlichen Philosophie in einem Band abhandelt, widmet er ihm eine ganze Monografie. Darin charakterisiert er Leibniz als den „bedeutungsvolle(n) Mann, der sich zuerst in Deutschland zu einer selbstständigen und selbsttätigen, produktiven Philosophie erhob“. (FB, S. 14)

Der zentralen Bedeutung des Werks war sich bereits Wladimir Iljitsch Lenin bewusst: Sein Exzerpt dazu findet sich in den „Philosophischen Heften“. Es lässt sich als Teil des Versuchs lesen, Feuerbachs Entwicklung besser zu verstehen. Von Lenins Begeisterung über das Werk zeugt bereits der Beginn seines Exzerpts, demzufolge er sich nur unwillig auf das Wesentliche beschränkt: „In der glänzenden Leibniz-Darstellung müssen einige besonders hervorragende Stellen vermerkt werden (das ist nicht leicht, denn das Ganze – das heißt der erste Teil, Paragraf 1 bis 13 – ist eine hervorragende Sache), dann die Bemerkungen aus dem Jahre 1847.“ (LW 38, S. 65)

Der Verweis Lenins auf die „Bemerkungen“ spielt auf die Entstehungsgeschichte des Werks an. Feuerbach verfasste es 1836, drei Jahre vor seiner Abrechnung mit der Hegelschen Philosophie und fünf Jahre vor Veröffentlichung seines Hauptwerks „Das Wesen des Christentums“. Während noch 1844 eine quasi unbearbeitete Auflage des Leibniz-Buchs erschien, finden sich in der dritten Auflage von 1847 – neben anderen weniger relevanten Änderungen – zwei neue Fußnoten, die Feuerbachs neuen Ansichten Rechnung tragen. In diesen geht er mit Leibniz hinsichtlich dessen idealistisch-theologischer Seite deutlich härter ins Gericht. Offen gelassen sei zunächst an dieser Stelle, ob die Vorwürfe wirklich Leibniz treffen oder vielmehr eine weitverbreitete Interpretation seiner Philosophie – Hans Heinz Holz argumentiert in seinem Aufsatz zu Feuerbach und Leibniz für Letzteres (Holz, S. 166). In jedem Fall aber spiegelt der schärfere Ton gegenüber den theologischen Versatzstücken bei Leibniz Feuerbachs eigene Entwicklung wider. So begleitet die Leibniz-Monografie die Herausbildung von Feuerbachs Anschauungen, indem er darin bereits beginnt, sich von Hegel zu lösen, und seine Religionskritik formuliert. Sie ist aber auch als eigenständige Leibniz-Interpretation wertvoll, die in vieler Hinsicht von gängigen Lesarten abweicht und eigene Akzente setzt.

Beide Seiten – die der eigenständigen philosophischen Entwicklung und die der Interpretation – treffen sich in Feuerbachs methodischem Ansatz, den er im Vorwort erläutert. Diese Methodenreflexion ist selbst schon eine philosophische Leistung, da er dort eine der besten Standortbestimmungen der Philosophiegeschichte und des Verhältnisses von systematischem und historischem Herangehen liefert, also vom Entwickeln eigener Positionen und der Lektüre fremder (und älterer) Texte – eine zentrale Frage für philosophisch Interessierte.

Feuerbach geht es darum, sich eine Philosophie anzueignen, also diese selbst denkend nachzuvollziehen – was er mit dem hübschen Bild unterstreicht, man solle sich in der philosophischen Aneignung nicht die Biene als Sammlerin zum Vorbild nehmen, sondern „die Biene, die den bereits gesammelten Blumenstaub als Wachs wieder ausschwitzt“ (FB, S. 5). In der Geschichte der Philosophie müsse die Entwicklung, das eigene Nachvollziehen, mit der Darstellung verbunden werden, die den untersuchten Philosophen „sich aus und durch sich selbst erklären lässt“ (FB, S. 6). Gleichzeitig ist das Nachvollziehen selbst historisch gebunden, also vom eigenen Standpunkt des Philosophierenden geprägt. Dabei legt er – wie im Übrigen Leibniz selbst und nach ihm Hegel – großen Wert darauf, das Positive einer Philosophie herauszuschälen: „Schwer ist darum die Entwicklung, leicht die Kritik.“ (FB, S. 4)

Einen solchen entwickelnden Zugang zu Leibniz ermöglicht Feuerbach mit seiner Interpretation. Holz vermutet etwa, dass Marxens verbriefte „admiration for Leibniz“ (MEW 4, S. 387) auf einer von der Monografie geprägten Lektüre des Universalgelehrten fußt (Holz, S. 200 f.). Was Karl Marx an Leibniz schätzte, erklärt sich für Lenin besonders durch einen bei Feuerbach hervorgehobenen Aspekt, nämlich die Lebendigkeit, Tätigkeit und Aktivität im Gegensatz zu der Starrheit der mechanistischen Philosophie. Er hebt dazu die Stelle bei Feuerbach hervor, an der dieser schreibt: „Die körperliche Substanz ist also bei Leibniz nicht mehr, wie bei Cartesius, eine nur ausgedehnte, tote, von außen in Bewegung zu bringende Masse, sondern als Sub­stanz hat sie eine tätige Kraft, ein nimmer ruhendes Prinzip der Tätigkeit in sich.“ (FB, S. 46)

Gerade mit der Bestimmung des Verhältnisses zu René Descartes einerseits und Baruch de Spinoza andererseits leitet Feuerbach auch seine Leibniz-Interpretation ein. Dass er diese drei wählt, ist systematisch angebracht: Spinoza und Leibniz nehmen die Auseinandersetzung mit Descartes beide als Ausgangspunkt, um von dort aus eigene – gegenläufige – Antworten auf in dessen Philosophie aufgeworfene Probleme zu geben. Bei Descartes ist die Welt dualistisch in Geist und Körper gespalten, die Welt der Körper ist mechanistisch organisiert. Eine der Schwierigkeiten ist, wie geistige Zustände auf Körper wirken und umgekehrt. Spinoza löst dieses Problem durch radikalen Monismus – alles ist eine einzige Einheit, eine einzige Substanz. Leibniz dagegen will die Einheit der Welt wiederherstellen, ohne aber die Vielheit in ihr zu verlieren und entwickelt deswegen einen Pluralismus von in Beziehung stehenden Einzelnen, den Monaden. So ist für Feuerbach Spinozas Philosophie ein „Teleskop“, auf die Einheit zielend, die Leibnizsche ein „Mikroskop“, auf den Unterschied abhebend (FB, S. 39).

Ausgehend von dieser Analyse rücken in Feuerbachs Leibniz-Verständnis drei Aspekte ins Zentrum: die Kraft oder Selbsttätigkeit, die Perzeptionen oder Vorstellungen und die Materie. Eine detaillierte Analyse der Stellung, die diese Begriffe in der Leibnizschen Metaphysik einnehmen, wäre hier fehl am Platz. Ihre Bedeutung bei Leibniz und in der Feuerbachschen Interpretation sei deshalb nur kurz angerissen. Für Feuerbach ist bei Leibniz „Tätigkeit (…) das Prinzip seiner Philosophie. Tätigkeit ist ihm der Grund der Individualität, der Grund, dass nicht eine Substanz, sondern Substanzen sind; alle Wesen sind ihm nur unterschiedene Arten der Tätigkeit, deren höchste Art das Denken ist.“ (FB, S. 23) Damit rückt Feuerbach die aktive Seite der Substanzen in den Fokus, also der bei Leibniz als „Monaden“ bezeichneten kleinsten Einheiten der Welt – um zu bestimmen, wie diese sich voneinander unterscheiden. Dafür, so Feuerbach, brauchen sie Qualitäten. Hier zieht er die Verbindung von der Selbsttätigkeit zu den Perzeptionen, den „Vorstellungen“, die jeder Monade innewohnen: „Die Qualitäten der Monade sind Aktionen, die Aktionen aber eines idealen Wesens Perzeptionen. Dass die Vorstellung Bestimmung, Determination und insofern Qualität ist, erhellt.“ (FB, S. 53) Diese Perzeptionen drücken nun aber wiederum die Beziehung jeder Substanz zu allen anderen aus, sie sind „Ausdruck der unendlichen Vielheit“ (FB, S. 59) der anderen Monaden und „von den Verhältnissen der Monade“ (FB, S. 59 f.), in denen sie zu den anderen steht. Damit rückt Feuerbach die Beziehung der Substanzen untereinander in den Fokus sowie die Rolle, die er der Materie bei Leibniz beimisst: „Der Gedanke, dass die Materie das allgemeine Band der Monaden ist – einer der erhabensten und tiefsten der Leibnizschen Philosophie“. (FB, S. 64)

An dieser – wenn auch oberflächlichen und ungenügenden – Zusammenfassung lassen sich mehrere bemerkenswerte Punkte von Feuerbachs Leibniz-Lektüre aufzeigen: So emanzipiert sich Feuerbach bereits in der Interpretation von Hegel: Er legt großes Gewicht auf das Verhältnis der Monaden untereinander und damit auf das universelle Wechselverhältnis, das die Einheit der Welt bei individuellen Unterschieden garantiert, während Hegel die Widerspiegelung der Welt im Einzelnen als „leeres Geschwätz“ (HW 20, S. 252) abtut und damit die Monaden letztlich als isolierte Einzelne begreift.

In den Zitaten zeigt sich, dass Feuerbach Leibniz als Idealisten liest – dies macht er auch in der Monografie explizit. Genau dafür kritisiert ihn Holz vor dem Hintergrund seiner eigenen materialistischen Leibniz-Lesart, wenn Feuerbach letztlich doch die Perzeptionen als geistige Vorstellungen und die Materie als Phänomen des Geistes interpretiert (unter anderem Holz, S. 181 f., 184, 197 ff.). Allerdings ist genau diese Lesart in der Rezeptionsgeschichte die vorherrschende und Leibniz – wie Holz selbst anmerkt – wählt an einigen Stellen Formulierungen, die ebenso eine idealistische wie auch eine materialistische Deutung zulassen. Damit sticht aber in Feuerbachs Interpretation gerade hervor, dass er die Perzeptionen an vielen Stellen eben nicht nur als rein geistig auffasst, sondern als Ausdruck eines universellen Zusammenhangs. Damit trägt er der Tatsache Rechnung, dass bei Leibniz eine Kontinuität zwischen Bewusstsein und anderem Seienden angelegt ist, was für Holzens materialistische Leibniz-Aneignung wichtig ist, da nur so ein materialistischer Bewusstseinsbegriff gewonnen werden kann. Diese Vorbereitung hebt auch Holz wiederum lobend hervor. Zudem räumt Feuerbach der Materie einen großen Raum in seiner Interpretation ein, während diese sonst oft eine untergeordnete Rolle spielt. Feuerbach setzt sich außerdem mit Leibniz’ Schwanken zwischen theologischem und philosophischem Standpunkt auseinander, bezeichnet ihn in einer der Anmerkungen von 1847 als „halbe(n) Christ“ (FB, S. 264) und benennt dort den „Widerspruch zwischen Leibniz’ Idealismus und Materialismus“ (FB, S. 266). Er sieht also die gegenläufigen Seiten und macht sie zum Thema seiner Kritik.

Feuerbach kritisiert Leibniz insbesondere dafür, dass dieser in der „Theodizee“ die christliche Gottesvorstellung zu retten versucht. Diese Auseinandersetzung klingt in seiner Hegelkritik nach, über die Engels schreibt: „Mit unwiderstehlicher Gewalt drängt sich ihm schließlich die Einsicht auf, dass die Hegelsche vorweltliche Existenz der ‚absoluten Idee‘, die ‚Präexistenz der logischen Kategorien‘, ehe denn die Welt war, weiter nichts ist als ein fantastischer Überrest des Glaubens an einen außerweltlichen Schöpfer“. (MEW 21, S. 277) Dieser Vorwurf gegenüber Hegel ähnelt dem, was Feuerbach gegen Leibniz vorbringt. Obwohl Feuerbach aber Leibniz gerade für die theologischen Versatzstücke angreift, erörtert er auch, wie sich der Wert eines philosophischen Werks unabhängig vom persönlichen Glaubensbekenntnis eines Denkers herausarbeiten lässt und wird damit wieder seinem eigenen methodischen Ansatz gerecht.

Die Auseinandersetzung mit Leibniz ist für Feuerbach aber auch der Boden, um seine eigenen Anschauungen weiterzuentwickeln, wie nicht nur die eigenständige – Hegel widersprechende – Leibniz-Interpretation, sondern insbesondere Feuerbachs an Leibniz anknüpfende eigene Reflexionen zeigen. Besonders aufschlussreich ist Feuerbachs Kritik des theologischen Standpunkts im Allgemeinen, den er als wesentlich unterschieden vom philosophischen charakterisiert (FB, S. 116). Während die Philosophie „keine andere Aufgabe, keine andere Tendenz (hat), als zu ergründen und erforschen“, reduziert sich die Theologie strenggenommen auf eine „Phänomenologie der Religion“ (FB, S. 120 f.). Sie verbinden zu wollen ist „unglücklich“, „verkehrt“ und „wahrheitslos“ (FB, S. 123).

Selbst die Schwächen, die Marx später in seinen Thesen benennt und Engels in seiner Schrift über Feuerbach ausführt, deuten sich an. Holz bemerkt, dass Feuerbach genau die dialektischen Elemente bei Leibniz wenig entwickelt (Holz, S. 166). Gerade der Mangel an einer dialektischen Auffassung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt ist es aber, der Marx in den „Feuerbach­thesen“ sagen lässt: „Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus – den Feuerbachschen mit eingerechnet – ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv.“ (MEW 3, S. 5) Dazu passt Feuerbachs Kritik des „praktischen Standpunkts“, den er mit dem theologischen gleichsetzt (unter anderem FB, S. 118 f.). Auch wenn die darin anklingende Kritik eines Subjektivismus und Relativismus berechtigt ist, zeugen Feuerbachs Ausführungen in Gänze von einem Hang zum Theoretisieren, sodass Marx sagt, Feuerbach begreife nur „das theoretische Verhalten als das echt menschliche“ und verkenne „die Bedeutung der ‚revolutionären‘, der ‚praktisch-kritischen‘ Tätigkeit“. Feuerbachs Leibniz-Monografie zeichnet also den später eingeschlagenen Weg auf mehreren Ebenen vor, ist aber mehr als ein reines Zeitdokument, sondern ein eigenständiges Nachvollziehen des vielschichtigen metaphysischen Systems von Leibniz – eben ein Entwickeln in der historischen Darstellung.

Literaturangaben

Feuerbach, Ludwig: Geschichte der neuern Philosophie: Darstellung, Entwicklung und Kritik der Leibnizschen Philosophie. Akademie-Verlag, Berlin 1984 (zitiert als: FB).

Holz, Hans Heinz: Feuerbachs Leibniz-Bild. In: Hans Heinz Holz: Leibniz in der Rezeption der klassischen deutschen Philosophie (hrsg. von Jörg Zimmer). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2015, S. 153 bis 206.

Die Abkürzungen HW, LW und MEW stehen für:

  • Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werkausgabe in 20 Bänden, Suhrkamp Verlag, 1986.
  • Wladimir Iljitsch Lenin: Werke. Dietz Verlag, Berlin.
  • Karl Marx/Friedrich Engels, Werke. Dietz Verlag, Berlin.

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"Vom Blumenstaub zum Wachs", UZ vom 2. September 2022



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