Zu Christa Wolfs Briefen 1952 – 2011

Wieder einmal sind wir ohnmächtig …

Von Rüdiger Bernhardt

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Christa Wolf

Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten

Briefe 1952–2011

Hrsg. von Sabine Wolf

Berlin: Suhrkamp Verlag 2016, 1040 S., 38,- Euro

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Wenn Christa Wolf einen Gedanken nie aufgegeben hat, dann ist es ihr bedingungsloses Auftreten gegen den Krieg; ihre größte Angst, „ohnmächtig“ zu sein. Damit war sie als junge Kritikerin, aus dem Zweiten Weltkrieg gekommen, angetreten und diese Haltung behielt sie bis an ihr Lebensende bei. Nach 1989 wurde sie in eine Welt zurückgeworfen, die mit „militärischer Intervention eine fanatische Einheitsfront der Araber gegen Europa und Amerika“ (Brief 330) schuf. Das betraf nicht die Situation nach 2000, sie schrieb das 1991 beim Krieg gegen den Irak und sah voraus, was die Welt heute belastet. Ihr Auftreten gegen Krieg durchzieht wie ein roter Faden die Briefe, ob sie – beispielsweise – an Erich Honecker (Brief 228) oder an Erich Fried (Brief 243) gerichtet sind.

Die ausgewählten Briefe der bedeutenden Schriftstellerin umfassen den Zeitraum von 1952 bis 2011; sie sind spannend, teils erregend. Aus dem Blick einer engagierten Beteiligten wird die Geschichte der DDR und der Vorgang beschrieben, wie aus anfangs einfachen sozialen und politischen Vorstellungen für den Aufbau des Landes allmählich immer kompliziertere Strukturen entstanden, aus denen zahlreiche Widersprüche entsprangen.

Die Herausgeberin Sabine Wolf – sie leitet das Literaturarchiv in der Berliner Akademie der Künste – hat 483 von etwa 15 000 erhaltenen Briefen zusammengestellt und sie mit Fleiß und hohem Faktenreichtum kommentiert. Die Briefe zeigen einen Menschen, der mit einer Überzeugung angetreten ist, nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges und den Verbrechen des Nationalsozialismus nicht nur eine neue Gesellschaft aufzubauen, sondern auch ein neues Menschenbild zu entwickeln. Das war überzeugend, weltanschaulich überschaubar, aber in der Durchführung kompliziert, denn man hatte eine Bevölkerung, die in einem entgegengesetzten Denken befangen war; aber die Zielsetzung war klar, nicht „naiv und parteifromm“ (Ulf Heise). Von Beginn an war das Medium, in dem sich Wolfs Vorstellungen entwickelten, das der Literatur; sie sah sich zuerst als Kritikerin, dann als Schriftstellerin. Literatur hatte an der Verbreitung des neuen Denkens einen ähnlich hohen Anteil wie am antifaschistischen Kampf. Sie hatte in der entstehenden Gesellschaft der Sowjetischen Besatzungszone, dann in der DDR einen Stellenwert, wie ihn keine literarische Epoche zuvor besaß. Das aber hieß auch, dass ihr eine Verantwortung übertragen wurde, die sie oft nicht zu tragen vermochte.

Für Christa Wolf war die entscheidende Frage die nach der „bestmöglichen Menschengestaltung“ (Brief 4). An die Literatur stellte sie dabei hohe ästhetische Maßstäbe, die ihr während des Studiums in Leipzig bei Hans Mayer vorgestellt worden waren. Bei der Beurteilung des Inhalts dieser Briefe ist diese Rolle der Literatur mitzudenken. Es geht immer um Bücher, um das Schicksal von Autoren und um die Rolle der Literatur in der Gesellschaft. Dort, wo Schriftsteller mit dem Staat in Konflikt gerieten, war Christa Wolf zur Stelle und setzte sich für die Autoren ein; das bedeutete nicht, dass sie stets mit ihnen übereinstimmte. Auch musste sie empfindliche Enttäuschungen zur Kenntnis nehmen: Sie hatte sich gegen die Ausweisung Wolf Biermanns ausgesprochen, musste aber erleben, dass er 1991 mit einem „etwas wirren ‚Zeit‘-Artikel“ den Krieg gegen den Irak rechtfertigte, was sie „betroffen und zornig“ machte (Brief 330). Deshalb ist der Titel des Bandes „Man steht bequem zwischen allen Fronten“ unpassend; er trifft weder das entscheidende Anliegen der Autorin, noch ihre Rolle in den Auseinandersetzungen, die sie immer, auch in komplizierten Situationen, auf einer Seite sah.

Wenn als Beweis einer Sinnesänderung Christa Wolfs Bekenntnis an Brigitte Reimann beim erneuten Korrekturlesen des „Geteilten Himmels“ 1971 zitiert wird, ihr komme „das große Heulen über die unschuldsvolle Gläubigkeit“ (Brief 93), so wäre hinzuzufügen: Sie sagt „an manchen Stellen“, bezieht es also eindeutig auf Zitate des Gesamttextes und meint damit jene Vorgänge, die sich aus der geradlinig einfachen Sicht der jungen Christa Wolf, die sie auch ihrer Rita Seidel im „Geteilten Himmel“ übertrug, rational klar und einfach regeln ließen. Aber es wurde aus dem Abstand deutlich, dass der Vernunft sowohl vieler Menschen als auch der Politik, gleich in welchem Land, nicht zu sehr vertraut werden durfte. Trotzdem blieb sie dabei zu sagen, „was wir nun einmal sagen können …, in der Hoffnung und Gewissheit, dass nicht nur wir selber, sondern dieser und jener andere noch es brauchen werden“ (Brief 93). Diese Briefe geben so Einblick in die Entwicklung der Gesellschaft, die Christa Wolf nie verlassen hat, weil sie „in der Bundesrepublik nie den Hauch einer utopischen Gesellschaftsentwicklung gesehen hat“ (Brief 434) und sie fand, „mit dem Atlas auf den Knien“ (Brief 318), kein Land, in das sie „hätte gehen können“. Die Briefe werfen Schlaglichter auf ihre Biografie, „Facetten der inneren und äußeren Biographie“ nennt die Herausgeberin Sabine Wolf das. Auch von „Einblick“ in ein Leben, wie Rezensenten schreiben, wäre zu sprechen, nicht aber von der „politisch-literarischen Autobiografie, die Christa Wolf nie geschrieben hat“ (Christian Eger). Das hieße, die nicht veröffentlichten 14 500 Briefe, ihre Empfänger und die Autorin selbst zu diskriminieren. Außerdem weist sie darauf hin, dass für ihre „innere Biografie“ (Brief 433) ihre Tagebücher wesentlich wären.

Es gibt auffällige Lücken, einige seien genannt: Briefe fehlen, die Christa Wolf mit Universitäten im Zusammenhang mit den Internationalen Hochschulferienkursen für Germanistik gewechselt hat; auch in der Danksagung der Herausgeberin wird keine Universität genannt. Dabei waren diese Hochschulferienkurse, an denen ausländischen Germanisten – Studenten und Wissenschaftler aus mehr als 120 Nationen – Jahr für Jahr mehrere Wochen teilnahmen, Orte der intensiven literarischen und politischen Auseinandersetzung. Christa Wolf hat, oft begleitet von ihrem Mann, in diesen Ferienkursen, besonders in dem Weimarer, eine bedeutende Rolle gespielt und mit deren Leitungen Briefwechsel geführt. Davon ist in dem Band bis auf einen Hinweis (Brief 171) nichts zu finden. Es ist auch kein Brief aus dem Wirken Christa Wolfs im Waggonbau Ammendorf enthalten, schließlich stand sie neben der Tätigkeit als Leiterin eines Zirkels schreibender Arbeiter mit den Mitgliedern im Briefwechsel und deren Briefe sind teils bekannt („Der geteilte Himmel“ und seine Kritiker); ihre Tätigkeit im Zirkel sah sie wie auch den Bitterfelder Weg insgesamt als wesentlich: Sie bekam u. a. „Einblick … in ökonomische Prozesse und Widersprüche“ („Christa Wolf“ von Therese Hörnigk, S. 35).

Der Band enthält Briefe, die keine sind (Briefe 33; 140, Anm.; 217; 232; 285); aber sie wurden eingefügt in die Konzeption des Bandes, das Bild einer Schriftstellerin zu zeichnen, die im Widerspruch zu ihrem Staat stand. Diese Briefe wurden nie abgeschickt. So wichtig sie für eine Biografie werden können, so fragwürdig sind sie für eine Auswahl von Briefen, die 14 500 nicht, dafür nicht abgeschickte Briefentwürfe abdruckt. Verfolgt man einzelne Themen und Probleme, die die Wolf durchgehend und grundsätzlich beschäftigen, werden diese Entwürfe und ihre Veröffentlichung noch fragwürdiger, weil sie Augenblicksreaktionen auf grundsätzliche Fragestellungen zeigen, die die Wolf durchaus anders und wirkungsvoller beantwortet hat. Da wäre zum Beispiel zu fragen, warum nicht ein so ausführlicher und grundlegender Brief, wenn auch an einen fiktiven Empfänger wie der an die „Liebe D.“ (Nun ja! Das nächste Leben geht aber heute an) aufgenommen wurde, der als Nachwort zur Neuausgabe des Buchs „Die Günderrode“ von Bettina von Arnim erschienen ist und in „Sinn und Form“ 1980, Heft 2, erstveröffentlicht wurde, zumal er in Anmerkungen kommentiert wird (Brief 246, Anm. 1 und 3). In ihm wird ein Grundproblem deutlich, um das Christa Wolfs Schreiben und Denken kreiste: Als Schriftstellerin und Denkerin „Vorschläge zu machen für eine andere nichttötende Art, auf der Welt zu sein“ und – ebenfalls in diesem Brief – „Der sicherste Weg, Illusionen zu verlieren, ist es immer noch, sie zu erproben“.

Einen Grundwiderspruch, den Christa Wolf erlebt, ist der zwischen Individuum und Gesellschaft, „Avantgarde“ und Volk (Brief 171). Aber sie legt ihn nicht spezifisch auf ihre Wirklichkeit in der DDR fest, in der dieser Widerspruch vorhanden ist, sondern sieht ihn in gesellschaftlichen Strukturen besonders in Deutschland grundsätzlich vorhanden. Das ist für sie „eine Art historischen Verhängnisses“ (Brief 171). Das Problem beschäftigt sie seit dem Ausgang der sechziger Jahre, findet einen Höhepunkt 1976 bei der Biermann-Ausweisung und erlebt seinen Niederschlag in der Günderrode-Erzählung „Kein Ort. Nirgends“, in der sie nachzeichnen will, „wie die Gesellschaft allzu empfindliche Instrumente vernichtet, wie sie Leute, die sich ihren destruktiven Verhältnissen nicht fügen können, unerbittlich zu Außenseitern macht“ (Brief 156). Der Stoff kommt aus der Romantik, Christa Wolf spricht von „der Gesellschaft“, ohne eine spezifische zu nennen, und vermerkt in einem anderen Brief (Brief 157), dass sie auf das Thema von Anna Seghers aufmerksam gemacht worden sei, was sie dankbar in Briefen an die Seghers wiederholt: Sie hatte über Schriftsteller wie Büchner, Lenz und Kleist geschrieben, dass sie Hymnen über ein Land geschrieben hätten, „an dessen gesellschaftlicher Mauer sie ihre Stirnen wundrieben“. Dass Christa dieses Problem für ein ungelöstes in der DDR sieht, aber nicht DDR-spezifisch, sondern gesellschaftsimmanent erklärt, wiederholt sie oft; sie bittet Günter de Bruyn, über sie einen Beitrag auf der Grundlage der „Kleist-Günderrode-Geschichte“ zu schreiben, betreffend ihren „preußisch-protestantischen Erbteil“ (Brief 168). In einem Brief an die Schriftstellerin Hilde Domin (Brief 336) 1991 verweist sie nachdrücklich auf den Zusammenhang von einst und jetzt, der Günderrode und ihr, nach wie vor ihren grundsätzlichen Anspruch betonend: „Heute stehen nun auch wir der bürgerlichen Gesellschaft – oder dem, was daraus hervorgegangen ist – direkt gegenüber …“. Ähnlich hatte sie reagiert, als Norbert Blüm sie 1989 zu einer Lesung nach Nordrhein-Westfalen eingeladen hatte (Brief 291), sie lehnte ab in einer Zeit, wo sie sich mit anderen bemüht, „dieses Gemeinwesen zu erhalten und hier zu einem demokratischen Sozialismus zu entwickeln“, ohne die Forderung nach Wiedervereinigung, die sie im Zusammenhang sah mit „aggressiven nationalistischen Losungen“ (Brief 296). Nur wenige Dokumente werden als Faksimile geboten; eine anonyme Karte – warum diese? – wird abgedruckt: „Hier spricht das Volk! Wir fordern: freie geheime Wahlen und Rücktritt von Egon Krenz.“ Christa Wolf hat in dieser Zeit 170 Briefe mit korrekten Absendern bekommen; auf manche hat sie reagiert (Briefe 295–297). Aber ihre ausführliche Antwort an alle Briefschreiber fehlt in dem Band („Es tut weh zu wissen“, in: Wochenpost Nr. 47/1989, S. 3). Auch fehlen Beispiele der umfangreichen Beziehungen nach Schweden, wo sich Christa Wolf mehrfach aufhielt und mehrere Dissertationen über sie entstanden – sieht man von der Beziehung zu Peter Weiss ab.

Für die die Kommentare hat die Herausgeberin zahlreiche Kontakte aufgenommen, wie aus der Danksagung an die Befragten hervorgeht. Dennoch finden sich Leerstellen: So hätte der Hinweis über die aktuelle „Affinität zum Mythos“ (Brief 235), die es in dieser Form zu der Zeit nur in der DDR gab, eine Erklärung verdient, ließe sich doch am Umgang mit dem Mythos in der DDR – von Prometheus bis Sisyphus – die Geschichte des Landes illustrieren. Christa Wolf hatte Anteil, befand sich in der Gesellschaft zahlreicher Autoren. Der Kommentar über Ingeborg Arlts Erzählung „Das kleine Leben“ (Brief 261) erscheint dubios; es bedurfte keiner Reklame, da Arlt 1986 dafür den Anna-Seghers-Preis erhalten hatte. Die Anmerkungen sind nicht frei von tendenziösen Einlassungen: So wird z. B. eine Auflagenhöhe von 3 000 Ex. für Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“ in der DDR „eher als Alibi-Unternehmen“ (Brief 226, Anm. 4) gesehen. Klemperers „LTI“, Grundbestand an Universitäten, sei aus „wissenschaftlichen Diskursen in der DDR weitgehend ausgeblendet“ worden (Brief 192) u. a. m.

Insgesamt liegt eine beachtliche Ausgabe vor; gemeinsam mit den Texten der Autorin, Interviews und ihren Essays vertiefen die Briefe Einsichten in Denken und Schaffen Christa Wolfs. Die Auswahl zur Beschreibung ihres Lebens zu stilisieren geht in die Irre; es ließen sich andere Zusammenstellungen denken. Aber es ist ein Dokument der inneren Kämpfe eines Menschen, die stets einem alles beherrschenden Hass auf den Krieg untergeordnet blieben.

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Über den Autor

Rüdiger Bernhardt (Jahrgang 1940). Nach dem Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Skandinavistik und Theaterwissenschaft (Prof. Dr. sc. phil.) tätig an Universitäten des In- und Auslandes und in Kulturbereichen, so als Vorsitzender der ZAG schreibender Arbeiter in der DDR, als Vorsitzender der Gerhart-Hauptmann-Stiftung (1994-2008) und in Vorständen literarischer Gesellschaften. Verfasser von mehr als 100 Büchern, Mitglied der Leibniz-Sozietät, Vogtländischer Literaturpreis 2018.

Er schreibt für die UZ und die Marxistischen Blätter Literaturkritiken, Essays und Feuilletons zur Literatur.

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"Wieder einmal sind wir ohnmächtig …", UZ vom 3. Februar 2017



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