Zum Rachefeldzug Deutschlands gegen die Brexiteers

Ziel Kleinbritannien

Es war in den deutschen Qualitätsmedien ruhig geworden um Boris Johnson. Hier etwas Häme über Probleme bei der Corona-Entwicklung, dort klägliche Versuche, einen möglichen „No Deal“ beim britischen EU-Abschied am 1. Januar dem britischen Premier anzulasten – aber die peinliche Selbstentblößung der US-Wahldemokratie hat den Hass auf den Chef-Brexiteer kurz in den Hintergrund gedrängt. Zuweilen ist angesichts der realen Gefahr, dass bald Zölle auf „Made in Germany“ erhoben werden, gar von einer Mitschuld „Brüssels“ (Synonym der Berliner Republik für „Wenn man uns die Dinge nicht machen lässt“) die Rede; man streitet mit London noch um Wettbewerb und Fischerei.

Mit zwei anderen Themen können die Qualitäter aber wieder anknüpfen. Eine vier Generationen zurückliegende irische Abstammung des designierten US-Präsidenten Joe Biden nährt die Hoffnung, dieser würde sich exklusiv des Irland-Themas bemächtigen – womit die gleichermaßen unausrottbare wie unbegründete Mär von einem Wiederaufflammen des Nordirlandkonflikts bedient wird, sollte es zwischen Nordirland und der Republik Irland Schlagbäume geben. Biden, der Johnson voriges Jahr einen „emotionalen Klon Trumps“ genannt hat, soll dem Briten ein paar aus Berlin gereichte Stöcke zwischen die Beine werfen. Nun liegt beim noch amtierenden US-Präsidenten dessen deutsche Wurzel sogar nur zwei Generationen zurück – etwa, als den Urgroßeltern deutscher Journalisten die Überzeugung einer auf Blut basierenden Volksgemeinschaft eingeimpft wurde. Folgt man also der hiesigen Abstammungslehre, wonach Biden die Heimat der Ururgroßeltern vor der aus London drohenden Gefahr eines irischen Bürgerkriegs schützen wird, so läge eigentlich nahe, in Donald Trump einen noch besseren Helfer Deutschlands gegen Britannien zu vermuten als in Biden für Irland. Darauf ist sonderbarerweise niemand gekommen.

Das mehr versprechende Thema beim Rachefeldzug gegen die britischen Zerstörer des deutschen Exportschluckers EU ist jedoch die Abspaltung Schottlands vom Vereinten Königreich. Im Mai bestimmt man dort die Zusammensetzung des Regionalparlaments neu und die „EU-freundliche Nationalistin“ (geht in diesem Fall) Nicola Sturgeon will sich dabei die Unterstützung für ein Abspaltungsreferendum gleich mit organisieren. Da geht es um schottische Mitgliedschaft in der EU und Zugriff auf das britische Erdöl. Solche fundamentalen Menschenrechte sind auch dem deutschen Kapital wichtig – der Brexit senkt das hiesige BIP nämlich um jährlich 0,7 Prozent.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher laden wir Sie ein, die UZ als Wochenzeitung oder in der digitalen Vollversion 6 Wochen kostenlos und unverbindlich zu testen. Sie können danach entscheiden, ob Sie die UZ abonnieren möchten.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Ziel Kleinbritannien", UZ vom 20. November 2020



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Haus.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit