Zuckerbrot und Kriegsgebrüll

Arnold Schölzel • Regierungsbotschaften zum 9. November

Arnold Schölzel

Arnold Schölzel

Mit den Schlagzeilen „Koalition erzielt Einigung bei der Grundrente“ und „Merkel rühmt Nutzen der NATO“ machte die FAZ am Montag auf. Beide Themen haben mit dem 9. November 1989 zu tun, dessen 30. Jahrestag das offizielle Berlin mit einer „Festivalwoche“ beging.

Das „Zuckerbrot“, das nach einer jahrzehntelangen Debatte der Bundestagsparteien über die sogenannte Grundrente nun 1,2 bis 1,5 Millionen Menschen verabreicht wird, ist ein Zugeständnis an die soziale Realität und Teil des Klassenkampfes von oben. Sozialminister Hubertus Heil (SPD) wollte im Februar noch eine Besserstellung für zwei bis vier Millionen Menschen erreichen. Da aber zu den Mythen der „sozialen Marktwirtschaft“ gehört, dass es auf Grund von Vollbeschäftigung keine Altersarmut gibt, verweigerten sich CDU und CSU seinen Vorschlägen. Die neue Regelung ist ein Symptom dafür, wie gravierend sich die Verhältnisse zum Schlechteren verändert haben, vor allem aber verändern werden. Das Statistische Bundesamt errechnete noch im September 2019, dass im Westen 3,5 Prozent der Rentner auf Grundsicherung angewiesen waren, im Osten etwa 2,2 Prozent. Mit der Grundrente zahlen nun die Koalitionsparteien, wie der Experte der Linken, Matthias W. Birkwald, kommentierte, die Zeche für ihre Politik zur Förderung eines der größten Niedriglohnsektoren in der EU. Alle Prognosen besagen zugleich, dass die Massenarbeitslosigkeit der 90er Jahre in Ostdeutschland bis Mitte der 30er Jahre zur Verdoppelung der Zahl jener Rentner führen wird, die in Armut leben. Schätzungen gehen davon aus, dass das mehr als 12 Prozent betreffen wird. Gleichzeitig schrumpft die Bevölkerung ganzer Landstriche im Osten weiterhin rapide. Die nun beschlossene Grundrente ist eine Art Pflaster, um die schlimmsten Auswirkungen des Kampfes gegen die Arbeiterklasse zu verdecken. Von kräftiger Anhebung des Mindestlohns zum Beispiel ist keine Rede.

Die Verabreichung sozialer Brosamen im Innern und gesteigerte Aggressivität nach außen sind zwei Seiten imperialistischer Politik. Zur staatlich inszenierten 9.-November-Volksverdummung gehörte daher die Ankündigung der Kriegsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer am vergangenen Donnerstag, die Bundesrepublik müsse ihre „Rolle der Gestaltungsmacht“ wahrnehmen. Neben dem Propagandastroh, das die Ministerin in ihrer Rede an der Münchner Bundeswehr-Universität am vergangenen Freitag drosch, hörte ihr Publikum auch Klartext wie „Rückkehr der Konkurrenz großer Mächte um Einflusssphären und Vorherrschaft.“ Bei der „Lösung von Konflikten“ solle sich Deutschland, wie der damalige Bundespräsident Joachim Gauck gesagt habe, „früher, entschiedener und substantieller einbringen“. Oder: „Wir sind neben China führend in der internationalen Containerschifffahrt – und auf freie und friedliche Seewege angewiesen.“ Notwendig sei „die Bereitschaft, gemeinsam mit unseren Verbündeten und Partnern das Spektrum militärischer Mittel wenn nötig auszuschöpfen“. Es sei „an der Zeit“, im indo-pazifischen-Raum ein „Zeichen“ zu setzen, indem wir mit unseren Verbündeten Präsenz in der Region zeigen.“

Die praktischen Schlussfolgerungen Kramp-Karrenbauers sprechen für sich: Der neu zu schaffende Bundessicherheitsrat wird ein Zentrum für die Planung und Koordinierung neuer Kriege sein. Bis zum Jahr 2031 sollen die Rüstungsausgaben auf die 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen, die in der NATO vereinbart wurden.

Der Beschluss über eine Grundrente enthält vor allem die Nachricht von der um sich greifenden sozialen Erosion. Die in Berlin Regierenden haben vom deutschen Kapital den Auftrag, in der Bundesrepublik eine Gelbwesten-Bewegung wie in Frankreich zu verhindern. Dies und die Bereitschaft, das Rüstungspulverfass randvoll zu stopfen sowie die Kriegsfähigkeit zu erhöhen, war die Botschaft des offiziellen Deutschland zum 9. November 2019.

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"Zuckerbrot und Kriegsgebrüll", UZ vom 15. November 2019



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