Große Kriegskoalition aus SPD, Grünen, FDP und Union beschließt Grundgesetzänderung

Aufrüstung bekommt Verfassungsrang

Ohne Zweifel steht Bundeskanzler Olaf Scholz in der über 150-jährigen Tradition der Sozialdemokratie. Mit Milliardenspenden an die Rüstungsindustrie und der Militarisierung der Gesellschaft hat sie reichhaltige Erfahrung. Gut denkbar ist, dass sich Scholz zur Inspiration vor seiner „Zeitenwende“-Rede im Bundestag am 27. Februar das Manuskript der Reichstagsrede seines Genossen Hugo Haase vom 4. August 1914 zur Hand genommen hat. Bei Haase hieß die „Zeitenwende“ noch „Schicksalsstunde“, der Feind aber war der gleiche: der „russische Despotismus“. Die SPD winkte die wilhelminischen Kriegskredite durch, 1914 ging es um 98 Milliarden Reichsmark. Beim sogenannten „Sondervermögen für Frieden und Freiheit“ geht es um 100 Milliarden Euro.

Große Stahlhelmfraktion

Den waffenbegeisterten Taumel im Plenarsaal des Bundestags bei der Sondersitzung am Sonntag nach der Intervention Russlands in der Ukraine bezeugt das Sitzungsprotokoll. Schon die bloße Ankündigung, „Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren“, führte zu frenetischem Klatschen und Standing Ovations aller Abgeordneten der großen Stahlhelmfraktionen. Kaum verwunderlich, dass nach weiteren drei Monaten medialen Trommelfeuers und antirussischer Dauerberieselung das größte Aufrüstungsprogramm der deutschen Nachkriegsgeschichte am 3. Juni auch seine parlamentarische Hürde mit Bravour nahm.

Nach einer redezeitbeschränkten Kurzdebatte votierten 567 Abgeordnete – 76 mehr als die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit – für die Änderung des Artikels 87a Grundgesetz (GG). Der neue Passus lautet: „Zur Stärkung der Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit kann der Bund ein Sondervermögen für die Bundeswehr mit eigener Kreditermächtigung in Höhe von einmalig bis zu 100 Milliarden Euro errichten. Auf die Kreditermächtigung sind Artikel 109 Absatz 3 und Artikel 115 Absatz 2 nicht anzuwenden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“ Damit hat die militärische Aufrüstung Verfassungsrang erlangt. Das erwähnte Bundesgesetz, im Handstreich formuliert, kam am vergangenen Freitag auch gleich zur Abstimmung: Mit 593 Ja-Stimmen passierte das „Bundeswehrfinanzierungs- und Sondervermögensgesetz (BwFinSVermG)“ – so die offizielle Bezeichnung – mühelos das Parlament.

Schuldenbremse ausgesetzt

Damit im Haushalt und im neuen Sondervermögen ungebremst Gelder für die Rüstung abgerufen werden können, fiel zusätzlich die Schuldenbremse (Artikel 109 Absatz 3 und Artikel 115 Absatz 2 GG). Das Schuldenlimit des aktuellen Haushalts liegt bei 13 Milliarden Euro – angesichts der im laufenden Haushalt aufgenommenen Neuverschuldung von 138,9 Milliarden Euro wäre die Schuldenbremse ohnehin schon um das 10-Fache überschritten. Da auf Drängen der CDU die Bereiche „Cyber-Sicherheit“, Zivilschutz sowie „Ausstattung und Ertüchtigung der Sicherheitskräfte von Partnern“ vom Sondervermögen in den „normalen“ Haushalt umgeschichtet wurden, ist ein weiterer Anstieg der Neuverschuldung in zweistelliger Milliardenhöhe einzubuchen. Die Schuldenbremse musste also weg. Mit der Mehrheit von 398 zu 251 Stimmen wurde sie für 2022 kurzerhand ausgesetzt und für allfällige weitere Steigerungen des Militärhaushalts der Freifahrtschein erteilt.

230801 Protest Bundestag - Aufrüstung bekommt Verfassungsrang - 100-Milliarden-Sondervermögen, Aufrüstung, deutscher Imperialismus, Grundgesetz, Kriegskredite - Hintergrund
Aktion vor dem Reichstag am Tag der Abstimmung über das „Sondervermögen“ für die Bundeswehr (Foto: Die Linke/Martin Heinlein)

Das Sondervermögen selbst weist eine Laufzeit von maximal fünf Jahren auf. Bis dahin müssen die gesamten Mittel für die Teilstreitkräfte Heer, Marine und Luftwaffe und für die Erfüllung des jährlichen 2-Prozent-NATO-Beitrags abgerufen werden. Nach Ausschöpfung des Sondervermögens wird der Geldquell für die Bundeswehr nicht versiegen: Paragraf 1 Absatz 3 des BwFinSVermG garantiert, dass „weiterhin die finanziellen Mittel bereitgestellt (werden), um das Fähigkeitsprofil der Bundeswehr und den deutschen Beitrag zu den dann jeweils geltenden NATO-Fähigkeitszielen zu gewährleisten“. Dazu, woher das Geld für die Tilgung der 100 Milliarden Euro kommen soll, findet sich weder im Gesetzentwurf noch den umlaufenden Begleitmaterialien ein Wort. Der Beginn der Rückführung des Kredits liegt ohnehin weit in der Zukunft. Sie soll am 1. Januar 2031 beginnen und „über einen angemessenen Zeitraum“ erfolgen. Wahrscheinlich ist also, dass noch die nächste Generation mit Steuermitteln hierfür aufzukommen hat.

Luftwaffe erhält größten Batzen

Das größte Volumen des Geldsegens entfällt nach dem Wirtschaftsplan, der Bestandteil des BwFinSVermG geworden ist, auf die Luftwaffe. 33,4 Milliarden sind für Entwicklung und Kauf des Eurofighters, die Beschaffung mindestens 35 neuer F-35-Jets inklusive Bewaffnung zum Stückpreis von etwa 100 Millionen Euro, schwere Transporthubschrauber, die Beschaffung waffentragender Heron-Drohnen und die Einrichtung eines „Systems Weltraumüberwachung“ vorgesehen. Die Marine darf sich über 8,8 Milliarden Euro freuen, die mehrheitlich in den Bau von Kriegsschiffen des Typs „Korvette 130“ und „Fregatte 126“ fließen werden. Das Heer sichert sich 16,6 Milliarden Euro, die zum Ausbau der Panzertruppe und Artillerie dienen. Truppenübergreifend stehen darüber hinaus 20,7 Milliarden Euro für „Führungsfähigkeit“, „Battle-Management-Systems“ und Satellitenkommunikation bereit.

Noch während der Abstimmung im Bundestag meldete der deutsche Rüstungsgigant Rheinmetall über den „Handelsblatt“-Ticker, man erwarte aus den Aufträgen rund um die Waffensysteme Puma, Fuchs und Boxer, der Munitionsbeschaffung und Digitalisierung ein Umsatzvolumen von 25 Milliarden Euro. An den US-Konzern Boeing geht die Bestellung von 60 Chinook-Transporthubschraubern, Lockheed-Martin sichert sich den milliardenschweren Auftrag für die Lieferung des atomwaffentragenden Tornado-Nachfolgers F-35, von den Aufträgen der Marine profitieren vor allem die Werften Lürssen (Bremen), German Naval Yards und Thyssen-Krupp Marine Systems (beide Kiel).

„Sondervermögen“ nicht neu

Sinn und Zweck des Sondervermögens ist es, unbehelligt von den in der Finanzverfassung des Grundgesetzes (Artikel 104a – 115 GG) niedergelegten Haushaltsgrundsätzen über kreditiertes Geld verfügen zu können. Artikel 110 GG, der unmittelbar den Bundeshaushalt betrifft, schreibt vor, dass Jährlichkeit, Vollständigkeit und Einheitlichkeit unhintergehbare Grundlage eines verfassungsgemäßen Haushalts sein sollen. Einnahmen sowie Ausgaben sind lückenlos in einen Haushalt einzustellen. Zudem gilt: Ausgaben sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen (Artikel 115 Abs. 2 GG). Ein Grundsatz, der allerdings in der Realität schon seit Jahrzehnten keine Gültigkeit mehr hat: Von 2015 bis 2021 stieg die Staatsverschuldung der BRD um 300 Milliarden Euro auf 2,32 Billionen Euro. Ein Nebensatz in Artikel 110 Absatz 1 GG wies den Weg für die Ampelkoalition, dem verfassungsrechtlichen Korsett strenger Haushaltsgrundsätze zu entgehen. Ausnahmsweise dürfen neben dem regulären Haushalt „Sondervermögen“ gebildet werden.

Nicht nur im Verfassungsrecht gilt der Grundsatz, dass die Konstruktion einer Ausnahme immer gleichzeitig die Regel bestätigt und die Gestattung von Ausnahmen des Vorliegens besonderer Notsituationen bedarf. Tatsächlich aber gehörten Sondervermögen auch bisher schon zum „Business as usual“ kapitalistischen Haushaltens. 26 Sondervermögen gab es seit Gründung der Bundesrepublik. Sie halfen meist, mit den Steuermitteln der Werktätigen akute Krisen der kapitalistischen Ökonomie zu heilen. Beispiele sind der Marshallplan 1953, der Fonds Deutsche Einheit 1990, Finanzmarkt­stabilisierungs- und Investitionsfonds anlässlich der Finanzkrise 2008/2009 oder der Wirtschaftsstabilisierungsfonds im Corona-Jahr 2020. Auch das 27. Sondervermögen für die letztlich vom Steuerzahler zu tragende Aufrüstung der Bundeswehr dient – wie seine Vorgänger – den Profitinteressen der Großindustrie.

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"Aufrüstung bekommt Verfassungsrang", UZ vom 10. Juni 2022



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