Frauen in der Islamischen Republik und ihre Rechte

Der fremde Iran

Karin Leukefeld

Am 1. März fanden in der Islamischen Republik Iran Wahlen statt. 61 Millionen Wahlberechtigte waren aufgerufen, die Abgeordneten für 290 Sitze des Parlaments, des Majlis und die Kandidaten für den Wächterrat zu wählen. Die Beteiligung war mit 41 Prozent – rund 25 Millionen – sehr gering. Stichwahlen sind für den 10. Mai vorgesehen. Viele Wähler waren der Abstimmung vermutlich ferngeblieben, weil der Wächterrat sämtliche Reformer und fortschrittlichen Kandidaten nicht zu den Wahlen zugelassen hatte.

Die Iraner seien der Wahl aus Protest ferngeblieben, war sich eine ARD-Korrespondentin mit vielen anderen Kommentatoren einig. Und eine „Iran-Expertin“ erklärte im „Deutschlandfunk“, eine Mehrheit der Bevölkerung im Iran wolle keine Reformen, sondern das Ende der Islamischen Republik. Mit anderen Worten: Regime-Change.

Tatsächlich wissen wir nur wenig über den Iran. Westliche Medien charakterisieren den Iran lediglich über seine Staatsführung und wie diese sich gegenüber den Interessen der westlich geprägten Staaten in Europa, den USA und deren Partnern in Übersee verhält. Das innergesellschaftliche Geschehen, soziale, kulturelle und politische Entwicklungen werden nahezu ausschließlich durch die westliche Brille gesehen. Die wenigen Bücher, die Autorinnen und Autoren aus eigener, teilweise auch jahrelanger Anschauung verfasst haben, werden bei Buchbesprechungen oder in Talk-Shows der gleichen Perspektive unterworfen. Diese Perspektive kommt in dem heute so aktuellen Outfit der Frauenrechte, des Feminismus und der Diversität daher. Ein Blick hinter die Schlagzeilen weist dabei bemerkenswerte Parallelen mit dem europäischen Kolonialismus des 19. Jahrhunderts auf.

Iranische Frauen in einer sich verändernden Gesellschaft

Von den 86,5 Millionen Einwohnern der Islamischen Republik des Iran sind 42,6 Millionen Frauen und 43,9 Millionen Männer. Laut Verfassung gehören zu den anerkannten Religionsgemeinschaften des Landes Christen, Juden und die Zoroastrier, deren Wurzeln in der vorislamischen und damit nichtmuslimischen Zeit liegen. Die offizielle Religion ist – seit dem Jahr 1501 – der schiitische Islam nach der Dschafari-Schule der zwölf Imame. Andere islamische Schulen werden respektiert. Obwohl laut Koran und im Islam allgemein für Männer und Frauen ihre Gleichheit vor Gott gilt, folgen wie in jeder muslimischen Gesellschaft auch im Iran die Familiengesetze der religiösen Zugehörigkeit. Sie prägen jenseits des staatlichen und religiösen Rechts den Alltag der Frauen und Mädchen im Bereich von Erziehung, Bildung, Arbeits-, Bewegungs- und Entscheidungsfreiheit, Heirat, Scheidung und Erbe. Der schiitische Islam billigt diesbezüglich den Frauen mehr Möglichkeiten – um nicht zu sagen Freiheiten – zu als der sunnitische Islam. Wie in jedem Land haben lokale und regionale Traditionen erheblichen Einfluss und es gibt ein Stadt-Land-Gefälle.

Die Entwicklung einer Gesellschaft wird an der Alphabetisierung und dem Geburtenrückgang gemessen, dabei ist die Alphabetisierung der Männer stets vor der der Frauen abgeschlossen. Im Iran war das bei den Männern 1964 der Fall, bei den Frauen 1981. Ein deutlicher Geburtenrückgang im Iran begann 1985, nur wenige Jahre nach dem Abschluss der Alphabetisierung. Heute liegt die Geburtenrate mit unter 2,0 auf dem Niveau von Frankreich. Ein deutlicher Sprung nach vorne ist im Iran bei der Schul- und Hochschulbildung für Mädchen und Frauen zu sehen. 1971 nahmen 36 Prozent der Mädchen im schulpflichtigen Alter am Grundschulunterricht teil, 2017 waren es 99 Prozent.

Der Anteil von Mädchen und jungen Frauen unter den Studierenden an Hochschulen stieg von 3 Prozent im Jahr 1978 auf 59 Prozent im Jahr 2018. Vier Jahre später, 2022, waren mehr als 60 Prozent der Studierenden an den iranischen Universitäten Mädchen und junge Frauen.

Anstöße für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern kamen durch die Konfrontation mit dem westlichen und zumeist kolonialen Gedankengut Ende des 19. Jahrhunderts. Großbritannien, Frankreich, Deutschland drängten nach Osten, um „einen Platz an der Sonne“ zu ergattern.

Der Ruf nach Gleichberechtigung der Frauen hatte im Iran eher privaten Charakter und kam von den wirtschaftlich gut gestellten Frauen der Oberschicht, die – während der konstitutionellen Revolution (1905 – 1911) – mehr Rechte und Freiheiten forderten. Es entstanden unabhängige Frauenvereinigungen, deren Forderungen von fortschrittlichen Zeitungen und von männlichen Intellektuellen verbreitet und unterstützt wurden. Diese städtische Bewegung fand ihre Widersacher bei konservativen Klerikern. 50 Mädchenschulen konnten in dieser Zeit in Teheran eröffnet werden.

Für die Frauen im Iran gab es erst in den 1930er Jahren einen weiteren Reformschub. Diesmal lag die Trägerschaft beim Herrscherhaus des Reza Schah Pahlevi, der die Frauen unterstützte und den Protest der Kleriker zurückdrängte. Zentrale Forderung war – wie zuvor – das Wahlrecht für Frauen, das tatsächlich aber erst 1963 erreicht wurde. In den 1960er Jahren konnte – erneut unter Führung des Herrscherhauses der Pahlevis – das Mindestalter für Heiraten heraufgesetzt werden, Scheidungen wurden erleichtert, Abtreibungen legalisiert. Mehrehen, im Islam zulässig, waren nur möglich, wenn die erste Ehefrau zustimmte.

Mit der Islamischen Revolution 1979 wurden diese Errungenschaften für die Frauen wieder rückgängig gemacht, das Tragen eines Schleiers in der Öffentlichkeit wurde Pflicht. Während des achtjährigen Iran-Irak-Krieges (1. Golfkrieg 1980 bis 1988) wurden Frauen in die Produktion aufgenommen und nahmen – wie immer im Krieg – eine große Rolle in der Arbeitswelt ein. In den 1990er Jahren drängten Frauen mit ihren Forderungen nach Gleichberechtigung wieder mehr in die Öffentlichkeit und erreichten, dass Beschränkungen aufgehoben oder zumindest gelockert wurden. Frauenzeitschriften und Frauenvereinigungen entstanden, von denen viele die Wahl von Mohammad Khatami zum Staatspräsidenten (1997/2001 und 2001/2005) unterstützten. Die Anwältin und Frauenrechtlerin Shirin Ebadi erhielt 2003 den Friedensnobelpreis. Die Kleriker teilten sich in konservative und moderate, aufgeklärte Geistliche.

Die Situation der Frauen im Iran hat sich seitdem deutlich verändert. Frauen sind im Parlament und in Regierungsämtern vertreten, sie arbeiten in den Medien, sind Professorinnen an Universitäten, sie arbeiten als Ingenieurinnen, steuern Flugzeuge, fahren Busse und Lastwagen und sind in allen Bereichen der Arbeitswelt einschließlich Militär und bei der Polizei vertreten.

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Die iranische Frauenfußball-Nationalmannschaft beim Training (Foto: INRA)

Im öffentlichen Straßenbild veränderte sich – ohne Revolution – über die Jahre die vorgeschriebene Kleiderordnung der Frauen, vor allem bei den jungen Frauen. Die knöchellangen Mäntel wurden immer kürzer und immer häufiger mit knielangen Blusen oder Jacken über Hosen ersetzt. Der vorgeschriebene Schleier wurde zum Kopftuch oder zum Schal, der lässig über die Haare gelegt wurde und schon mal auf die Schultern rutschte. Die strenge, religiös vorgeschriebene Kleidung für Frauen wurde und wird weiterhin in öffentlichen, staatlichen Einrichtungen eingefordert und von einer – erst abgeschafften und dann wieder eingesetzten – weiblichen Ordnungspolizei kontrolliert, die im Westen als „Sittenpolizei“ bezeichnet wird.

Bei alledem ist nicht zu vergessen, dass in den Provinzen und auf dem Lande zumeist traditionell übliche Kleidung für die Frauen gilt. Bunte oder auch keine Kopftücher (beispielsweise in den kurdischen Gebieten im Westen des Irans), Tätowierungen oder Gesichtsschleier in der arabisch geprägten Provinz Ahvaz im Südwesten.

Ein tragischer Tod und seine Instrumentalisierung

Der Tod der jungen Kurdin Mahsa Ameni im September 2022 war ein tragischer Unfall. Die iranischen Behörden veröffentlichten das Video der Überwachungskamera in dem Zen­trum, wo neben Mahsa Ameni zahlreiche andere Frauen wegen ihrer angeblich nicht vorschriftsmäßigen Kleidung festgehalten wurden. Zu sehen ist, wie sie mit einer der Wächterinnen über ihre Kleidung diskutiert. Dabei ging es nicht um das Kopftuch, das sie vorschriftsmäßig trägt, sondern um einen sehr lockeren, in Streifen genähten Mantel. Die Wächterin geht weg, Mahsa Ameni fasst sich an den Kopf, stolpert gegen eine Stuhlreihe und bricht dann zusammen. Zahlreiche Frauen versuchen ihr zu helfen, die Wächterin holt die Ambulanz, sie wird aus dem Raum getragen und in ein Krankenhaus gebracht. Die junge Frau war ins Koma gefallen und starb zwei Tage später im Krankenhaus.

Der iranische Präsident Ibrahim Raisi sagte auf einer Pressekonferenz eine Untersuchung zu. Ärztliche Berichte ergaben später eine Vorerkrankung.

Westliche Regierungen, Medien, Frauenorganisationen und Stiftungen übertönten jedoch jede offizielle und medizinische Erklärung des tragischen Todes, die veröffentlicht wurden. Sie erklärten den Tod von Mahsa Ameni zur Folge von „Gewalt und Folter“ und prangerten das „iranische Regime“ an. Sie finanzierten und unterstützten öffentliche Proteste im Iran und außerhalb des Landes. Die deutsche Außenministerin Annalena Baer­bock erklärte im Interview mit dem ZDF: „Wir stehen auf der Seite der Menschenrechte, auf der Seite der Frauen.“ Man müsse Freiheit, Leben, Frausein schützen und werde deshalb neue EU-Sanktionen gegen den Iran auf den Weg bringen.

Es kam zu blutigen Unruhen, an denen vor allem junge Männer, auch mit Waffen, teilnahmen. Die iranische Führung warnte vor „Chaos“ und schickte Sondereinsatzkommandos gegen die landesweit aufflammenden Proteste auf die Straßen. Hunderte, darunter auch viele Journalistinnen, wurden festgenommen, mehr als 100 Menschen, darunter auch polizeiliche Sicherheitskräfte, wurden getötet. Die Regierung suspendierte zunächst den Chef, dann die gesamte „Sittenpolizei“. Doch die Kritik aus dem Ausland nahm kein Ende, der Iran verlor die Medienschlacht. Zwei Jahre später hat sich die Lage an der westlichen Medienfront beruhigt, doch das Bild über den Iran und die Lage der Frauen dort hat sich fest in den Ansichten deutscher Frauen und westlicher Frauenorganisationen eingebrannt.

Entschleiert die Frauen!

Persien/Iran konnte im 20. Jahrhundert „anders als viele anderen Länder des Vorderen Orients einer länger andauernden Beherrschung durch europäische Kolonialmächte“ entgehen, schreibt Monika Gronke in ihrem Buch „Geschichte Irans“. Doch die europäischen Kolonialmächte haben nie lockergelassen und werden heute von den USA in ihrer antiiranischen Politik und Stimmungsmache unterstützt. Die Forderungen der Frauen im Iran auf das Tragen eines Kopftuchs zu reduzieren knüpft an alte koloniale Gepflogenheiten der Briten (in Ägypten) und der Franzosen (in den islamisch geprägten Kolonien Afrikas) an.

Richtig ist, dass gut ausgebildete Iranerinnen häufig keine adäquate Arbeit finden, dass die Lebenshaltungskosten und die Inflation hoch sind. Richtig ist, dass es nach wie vor politische und kulturelle Einschränkungen für Frauen im Iran gibt, aber richtig ist auch, dass die Frauen im Iran sehr viel erreicht haben. Sie drängen in die Universitäten und sind in der Arbeitswelt sichtbar. Selbstbewusst erobern sie den öffentlichen Raum für sich, selbst wenn religiöse Gesetze sie noch immer einschränken. Vor 20 Jahren bewegte ein Film über ein Mädchen im Iran die Welt, das Fußball so sehr liebte, dass sie sich als Junge verkleidet in das Stadion schlich. Heute bevölkern die Iranerinnen nicht nur die Fußballstadien der Welt – übrigens auch bei der Fußballweltmeisterschaft in Katar 2022 –, sie spielen selber in einer Nationalmannschaft mit großem Erfolg, und iranische Männer und Frauen zollen Respekt. Und diese Sportlerinnen tragen ein Kopftuch, was nichts mit ihrer modernen, dem Leben zugewandten Einstellung zu tun hat.

Das Kopftuch oder die Verschleierung der Frauen wurde schon vor mehr als 100 Jahren von den europäischen Kolonialmächten benutzt, um die kolonisierten Gesellschaften zu spalten. Es sei ein Zeichen „männlicher Unterdrückung“ und unvereinbar mit der westlichen Zivilisation und Werteordnung. Frankreich zwang in seinen Kolonien im islamischen Afrika die Musliminnen dazu, die Verschleierung abzulegen. Entwürdigende Beispiele sind im Militärarchiv der französischen Armee in Paris nachzulesen.

In Ägypten hatten die Briten Ende des 19. Jahrhunderts eine öffentliche Debatte über den Hijab angezettelt. Der britische Generalkonsul ließ Handbücher an die Truppen verteilen, in denen sich Anleitungen zur schrittweisen Entschleierung der Frauen fanden. Der Schleier galt für die Kolonialmacht als „Schlüssel für die Kontrolle der Kolonien“, die Ägypterinnen sollten gegen ihre Männer, Väter und Brüder ausgespielt werden.

Den iranischen Frauen blieb die „Entschleierung“ durch koloniale europäische Mächte bisher erspart. Die Modernisierung der muslimischen Gesellschaften durch die Fortschrittlichkeit der Frauen bringen überall konservative und dogmatische Kleriker in Bedrängnis. Die historische Entwicklung ist auf der Seite der Frauen, die um Selbstbestimmung und Gleichberechtigung – mit und ohne Kopftuch – kämpfen. Dabei haben die Iranerinnen in ihrer Heimat durchaus andere Vorstellungen von Befreiung als im deutschen Außenministerium, bei der EU, in Washington oder in anderen westlichen Institutionen.

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"Der fremde Iran", UZ vom 5. April 2024



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