Krach in der imperialistischen Pyramide

Von Hans Christoph Stoodt

Die Kriegsgefahr wächst. Der Imperialismus wird sich selbst immer ähnlicher, und die Lage ähnelt in mancher Weise der vor dem ersten imperialistischen Weltkrieg. Viele werden dieser Einschätzung folgen. Wie das Verhältnis der imperialistischen Staaten zueinander im Detail einzuschätzen ist – das sind dagegen offene Fragen. Die Friedensbewegung und generell die antiimperialistischen Kräfte müssen ein klares Bild darüber gewinnen, um entscheiden zu können, wem Solidarität gebührt. Der Krieg oder die Kriege, die der Imperialismus im Nahen Osten mit unklaren und wechselnden Zielen und Partnern führt, machen eine klare Analyse besonders notwendig. Die UZ will mit diesem Beitrag von Hans Christoph Stoodt eine intensivere Diskussion darüber beginnen. Das heißt ausdrücklich nicht, dass die Redaktion mit allen seinen Thesen einverstanden ist. Die Haltung der Friedensbewegung glatt als „Parteinahme für Russland“ zu qualifizieren, scheint uns besonders fragwürdig.

Das Staatenbündnis EU, dessen Möglichkeitsbedingungen Lenin schon im August 1915 „reaktionär oder unmöglich“ genannt hatte, ist in der Krise. Auch der Nahe und Mittlere Osten kommt nicht zur Ruhe. Das schlägt sich auch in Diskussionen der Friedensbewegung und der antifaschistischen Linken nieder. Uneinigkeiten in der Analyse des gegenwärtigen Imperialismus sind offensichtlich.

Auf der einen Seite wird zu Recht gewarnt, das Ziel der NATO-US-Einkreisung Russlands werde ein militärischer Überfall sein. Die Konsequenz besteht in der Parteinahme „für Russland“ und dessen Regierung. Russlandfahnen sind auf Friedensdemonstrationen nichts Ungewöhnliches. Es ergeben sich hier zudem politische Überschneidungen mit im Vergleich zum transatlantischen Flügel bedeutend schwächeren Teilen der „eurasisch“ orientierten Monopolbourgeosie – und z. B. unter dem Label „Souveränismus“ machen da auch rechte Gruppierungen der Bourgeoisie bis hin zu Teilen der Arbeiterklasse mit (Pegida und AfD).

Im syrischen Bürgerkrieg und seinen Konsequenzen für die Kurdistanfrage sammelt sich eine andere Koalition, deren AktivistInnen nicht zum Bündnis mit Russland, sondern mit den USA bereit sind. Während des Dritten Golfkriegs 2003, des vor allem durch den US-Imperialismus herbeigebombten Staatszerfalls im Irak, hatten kurdische Gruppen im Norden des Landes eigene territoriale Fakten geschaffen. Andere kurdische Organisationen versuchen heute das gleiche im Norden Syriens. Schon 2003 wandten sich kurdische, PKK-orientierte Kräfte in der BRD von der Friedensbewegung ab, die gegen den Golfkrieg mobilisierte. Sie befürworteten ausdrücklich den Angriff der USA auf Irak. Die Kantonisierung Iraks entlang ethnischer und religiöser Linien, von kurdischer Seite bereitwillig mitgetragen, ist heute Grundbedingung für die Verhinderung des Wiederaufbaus irakischer staatlicher Strukturen, an denen US-Imperialismus und die Führung der irakischen KurdInnen gemeinsam kein Interesse haben. Dies gehört zur Strategie der Schaffung eines von den USA dominierten „Greater Middle East“, eines Projekts, das auf einer Revision der im britisch-französischen Sykes-Picot-Abkommen nach dem 1. Weltkrieg kolonialistisch gezogenen Grenzen beruht. Die USA, nicht die Völker selber, wollen heute die Grenzen dort neu ziehen.

Klar, dass die politischen Kräfte, die 2003 hinter der kurdischen Strategie im Norden Iraks standen, nicht identisch sind mit denen, die heute das Projekt in Rojava vorantreiben. Gerade wegen dieser Unterscheidung ist das Verhalten der heutigen kurdischen Führung dort dem damaligen, von anderen Kräften getragenen so signifikant ähnlich. PKK und YPG sind ein militärisch-politisches Bündnis mit den USA und ihren Verbündeten eingegangen, das weit mehr ist als eine zeitweilige taktische Übereinstimmung gegen den IS.

Kritik am proimperialistischen Vorgehen der PKK-Führung

wird als Verrat am Internationalismus gesehen

Von hiesigen Apologeten dieses Vorgehens wird das Vorgehen der PKK als alternativlos deklariert, als aus nur der Not geborener zeitweiliger „Pakt mit dem Teufel“ gegen den „Islamfaschismus“. Das ist, wie die Parallele 2003 zeigt, aber nicht der eigentliche Grund. Dass die PKK-Führung schon länger und auch ohne die aktuelle militärische Zwangslage zu einem solchen Bündnis mit den USA bereit war, um eigene, nationale Ziele durchsetzen zu können, war nach Abdullah Öcalan bereits Gegenstand von Überlegungen längst bevor die heutige militärische Lage um Rojava existierte. Auf der politischen Agenda der Führung und des PKK-Vorsitzenden stand und steht das ausdrückliche, bewusste Einschwenken auf die US-Strategie eines Greater Middle East. Dazu Öcalan bereits 2010:

„Das Greater Middle East Project, (…), beruht auf jüngsten Analysen des Imperialismus seit 1990 und ist der Versuch, aktuelle Probleme zu lösen. Es geht davon aus, dass die von Frankreich und England nach dem I. Weltkrieg errichtete Ordnung Fehler enthält und den heutigen Anforderungen nicht länger genügt. Es findet sich sogar eine selbstkritische Haltung. So wird es mittlerweile als Fehler angesehen, nach dem II. Weltkrieg im Namen von Sicherheit und Stabilität den Despotismus gefördert zu haben. Die extreme Verarmung der Bevölkerung der Region wird als schädlich und gefährlich für das System eingestuft. Daher sollen ökonomische Entwicklung, individuelle Freiheiten, Demokratisierung und Sicherheit gleichzeitig vorangebracht werden. Mit diesem Modell will man die chronisch gewordenen Probleme und Konflikte (Israel-Palästina, Kurden-Araber, Türkei, Iran) lösen, gleichzeitig das gesellschaftliche Gefüge aus dem Klammergriff des Despotismus befreien und so neue Explosionen verhindern. Es handelt sich um eine Art an die Region angepassten neuen Marshallplan, wie er seinerzeit für Europa umgesetzt wurde. Wenn die Region für das System sehr wichtig ist – und das ist der Fall – und gleichzeitig so etwas wie eine Phase des Chaos durchmacht, dann ist ein Projekt mit diesen Zielen notwendig und realistisch. Es kommt sogar reichlich spät“, wobei sozialer Inhalt dieser Strategie für Öcalan wohl längst nicht mehr der Weg zum Sozialismus/Kommunismus ist. Seine gesellschaftliche Zukunftsvorstellung speist sich eher aus Reminiszenzen an eine „natürliche Gesellschaft“.

Schon länger also besteht in der PKK die Idee, ein befreites kurdisches Gemeinwesen auch auf den Trümmern des vom US-Imperialismus zerstörten Syrien und im Rahmen eines Greater Middle East aufzubauen, analog zu kurdischen Kräfte im Irak – und, wer weiß, in Zukunft vielleicht auch Irans? Darum beteiligen sich kurdische Kräfte auf ihre Weise an der Zerschlagung Syriens und Iraks – nicht im „antinational“-staatskritischen, sondern objektiv im Sinn „produktiver Zerstörung“ im Interesse des Imperialismus.

Dabei können alle Karten neu gemischt werden. So ist z.B. eine künftige Allianz kurdischer und israelischer Kräfte nicht völlig ausgeschlossen, wird von Israel für wünschenswert erklärt und in der BRD von der Kurdischen Gemeinde propagiert – zu Lasten Palästinas. Von „Internationalismus“ ist das weit entfernt. Neue Konflikte tun sich in diesem Kontext schon auf, wenn andererseits Israels Militärgeheimdienstchef im Juni 2016 offen erklärt, seine Regierung ziehe ein Syrien unter dem IS der Assad-Regierung vor. Ähnliche Konflikte sieht man bereits zwischen Syrien, YPG, der Türkei und den USA bei den Kämpfen um Hasakah und in der Frage des Waffenstillstands um Jarabulus. Zugleich nähern sich Israel und die Türkei diplomatisch einander ebenso wieder an,wie andererseits die Türkei und Russland: stärkere und schwächere imperialistische Kräfte ringen gegenwärtig um die künftige Dominanz im zu erbauenden Greater Middle East von US-Patronage. Wie realistisch die Hoffnung der PKK ist, in dieser Lage ein eigenes, nicht-staatliches Gemeinwesen zu bauen, ist ebenso fraglich, wie klar ist, dass die syrische Bevölkerung zu alledem von niemandem befragt wird.

Die antiimperialistische und internationalistische Linke der BRD verschließt vor diesem Vorgang weithin die Augen. Sie denunziert Kritik am proimperialistischen Vorgehen der PKK-Führung als Verrat am Internationalismus. Sie selbst wird dadurch mittelbar Anhängsel einer Strategie, die sich ins Schlepptau der führenden Macht des Imperialismus begibt – bezeichnet dies als „internationale/antinationale“ Solidarität. Detailliert belegt kann man diese Entwicklung in zwei Texten nachverfolgen, die während des diesjährigen Pressefests der UZ im „Roten Zelt antifaschistischer und antikapitalistischer Gruppen“ zur Diskussion gestellt wurden.

Beide Positionen gehen mehr oder weniger deutlich von progressiv formulierten Zielen aus: für Frieden, Internationalismus, Antiimperialismus, für ein emanzipatorisches Projekt Rojava – und beide sind im eigenen Land anfällig für Allianzen mit eigentlich abgelehnten, offen rechten Positionen, wie die offene Flanke zu Pegida/AfD einerseits, der Bereitschaft zur Unterordnung unter die Ziele der USA andererseits zeigt. (Ausdrücklich hinzugefügt werden muss in der aktuellen Diskussionslage, dass diese Einschätzung keineswegs von einer „Äquidistanz“ zu den einander bekämpfenden imperialistischen Kräften ausgeht, Die „imperialistische Pyramide“ ist die adäquate aktuelle Anwendung der Leninschen Imperialismusanlaysesondern sie jeweils unterscheidet – aber zugleich als das charakterisiert, was sie sind: Imperialisten.)

In beiden Fällen ist das nur möglich, weil letztlich beide nicht klassenanalytisch basiert argumentieren und darauf verzichten, die Rolle des deutschen Imperialismus im jeweiligen Politikfeld zu thematisieren – oder gar zum Kampf gegen ihn aufzurufen.

Die „imperialistische Pyramide“ ist die adäquate

aktuelle Anwendung der Leninschen Imperialismusanlayse

Wer, wie im gleichen Spektrum nicht ungewöhnlich, den IS als „islamfaschistisch“ bezeichnet oder solche „Analysen“ im eigenen Bündnisbereich akzeptiert, verbreitet objektiv Kriegs- und „Anti-Terror“-Propaganda und liefert für dieses Übergehen auf proimperialistische Positionen eventuell gleich auch noch die dazu passende „antifaschistische“ Legitimationsideologie: war nicht auch „gegen Hitler“ ein Bündnis der UdSSR mit dem Imperialismus erforderlich? Joseph Fischer und Rudolf Scharping winken aus dem Jahre 1999: damals wie heute geht es in Wahrheit doch um Regionalinteressen des Imperialismus, nicht um „Antifaschismus“. Und wer in dieser „Analogie“ heute die Rolle der UdSSR übernehmen soll, also des Staats, der aufgrund seines Klassencharakters in der Lage war, militärisch die Hauptlast der Zerschlagung des Nazifaschismus zu leisten, bleibt ebenso im Dunklen wie die Frage, aufgrund welcher Analyse der politischen Ökonomie des IS dessen Charakterisierung als „faschistisch“ beruhen soll – abgesehen davon, daß man sich mit dieser Begrifflichkeit auf ein zentrales „antideutsches“ Ideologie-Element mit hoher politischer Anschlussrationalität an die extreme Rechte einigt.

Man muss kein Prophet sein, um vorhersagen zu können, welcher Partner einer kurdisch-US-amerikanischen Allianz militärisch und darum auch politisch der stärkere Teil ist, und wer letztlich wem im Konfliktfall um die von beiden Seiten akzeptierte US-Strategie des Greater Middle East die wichtigen Schritte diktieren wird. Die aktuellen Ereignisse zeigen, dass die USA sich schon jetzt in eine dominante Rolle zwischen Türkei, Russland, PKK und Israel manövrieren, mal mit, mal gegen die PKK.

Zu Beginn des 1. Weltkriegs wurde in der deutschen Sozialdemokratie der Übergang auf die Seite des „eigenen“ Imperialismus gelegentlich mit „linken“ Argumenten gegen den Zarismus begründet. Damit ergriff man Position für den „eigenen“ Imperialismus, den „zivilisierten“ im Unterschied zu den russischen „Barbaren“.

Dem hielten Teile der Zimmerwalder Linken um Lenin die Losung entgegen, es sei die Aufgabe jeder marxistischen Partei, das Proletariat des eigenen Landes dazu zu befähigen, den imperialistischen Krieg in einen Bürgerkrieg gegen die jeweils „eigenen“ Imperialisten zu verwandeln, anstatt sich der einen oder der anderen Seite des imperialistischen Kriegs anzuschließen.

Für die heutige Entwicklungsepoche des Imperialismus hat die KP Griechenlands (KKE) die Theorie der imperialistischen Pyramide in die Diskussion gebracht, adäquate aktuelle Anwendung der Leninschen Imperialismusanlayse. Sie macht deutlich: Es gibt heute keinen wesentlichen politischen Konflikt in der Welt, der nicht zugleich ein Konflikt zwischen imperialistischen Mächten ist. Aufgeteilt zwischen ihnen, entwickeln sich die globale Machtverhältnisse stürmisch weiter. Das resultiert notwendig in sich ständig verändernden imperialistischen Konflikten und Allianzen. Es kann aber nie Sinn des Kampfs der internationalen Arbeiterklasse und ihrer revolutionären Parteien sein, sich in diesen Konflikten auf der einen oder anderen imperialistischen Seite zu verorten. Vielmehr darf sich, ähnlich wie bereits 1914ff, eine marxistische, klassenorientierte, antiimperialistische und internationalistische Linke mit dem revolutionären Ziel des Sozialismus/Kommunismus unter den heutigen Bedingungen nie und nirgends auf die Seite einer der um die globale Vormacht kämpfenden imperialistischen Mächte stellen oder sich als Bauern auf ihrem Spielbrett zur Verfügung stellen. Sie hat vielmehr überall dafür zu kämpfen, in Unabhängigkeit von der „eigenen“ wie von jeder Monopolbourgeoisie in ihrem Land um den Sturz des Kapitalismus zu kämpfen – in internationalistischer Solidarität mit allen, die das in ihren jeweiligen Ländern ebenfalls tun. Diese Solidarität gilt heute zuerst dem kurdischen, syrischen und palästinensischen Volk und allen Völkern der Region, die vom Imperialismus der USA, der EU-Staaten, Russlands, der Türkei und Israels unterdrückt und zu bloßen Objekten widerstreitender imperialer Interessen und wechselnden, zeitweiligen Allianzen gemacht werden.

Je weiter sich heutige linke Kräfte von der Aufgabe des Kampfs gegen den im jeweils eigenen Land stehenden Hauptfeind entfernen, um so mehr leisten sie einen Beitrag zur Verlängerung des Elends, unter dem sie leiden und das sie bekämpfen wollen. Wenn sie dafür antiimperialistische und internationalistische Begrifflichkeiten und Slogans nutzen, leisten sie damit objektiv einen Beitrag dazu, diesen ihre Glaubwürdigkeit zu nehmen.

Umgekehrt ist die Erarbeitung einer eigenen antiimperialistischen „Außenposition“ (Thomas Metscher) das Gebot der Stunde, einer Position, die in der Lage ist, die Haltung der Zimmerwalder Linken zum imperialistischen Krieg unter heutigen Bedingungen neu zu formulieren und an ihrer erfolgreichen Umsetzung zu arbeiten. Jeder Schritt dahin ist die effektivste internationalistische Hilfe, die denkbar ist.

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"Krach in der imperialistischen Pyramide", UZ vom 9. September 2016



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