Schlussfolgerungen der Tarifrunde im Öffentlichen Dienst für das Gesundheitswesen – Teil 2

Reicher an Kampfkraft

Marie Schmidt, Hamburg

Ökonomisch gesehen war das Ergebnis der Tarifrunde im Öffentlichen Dienst kein Erfolg für die lohnabhängig Beschäftigten. Mit Lenin ist danach zu fragen, ob mit dem Arbeitskampf die absolute und relative Verelendung der Arbeiterklasse aufgehalten wurde. In bürgerlich-volkswirtschaftlichen Indikatoren gefasst, heißt das, sich die Auswirkungen der erkämpften Lohnsteigerungen auf die Lohnquote und die Nettokaufkraft anschauen. Ohne groß zu orakeln, wird der Abschluss weder die Lohnquote zu unseren Gunsten verändern noch in relevantem Maße die Kaufkraft verbessern.

Selbst die Steigerungen im Bereich der Krankenhäuser für die Kolleginnen und Kollegen der P-Tabelle, der Gehaltstabelle für Beschäftigte in der Pflege im Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen, muss man im Gesamtzusammenhang als nachholende Entwicklung betrachten. Berücksichtigt man die Tatsache, dass die Kolleginnen und Kollegen aus den Krankenhäusern nach wie vor keine bezahlte Pause bei Wechselschicht haben und dass in dem traditionellen Frauenberuf wesentlich schlechter eingruppiert wird als in anderen Bereichen des Öffentlichen Dienstes, so ist auch in diesem Bereich der Abschluss kein großer Schritt nach vorn.

Nur weil wir nicht stark genug waren, dem Kapital einen besseren Abschluss abzuringen und es vielleicht das beste Ergebnis war, das unter den konkreten Bedingungen erzielt werden konnte, muss man es nicht im Nachhinein schönen, so wie es in Teilen der Gewerkschaft passiert. Die Frage ist vielmehr, wie wir unsere Kampfkraft erhöhen und ob wirklich konsequent alle Möglichkeiten und Mittel in diesem Streikkampf gegen das Kapital eingesetzt wurden.

Die seit längerer Zeit sinkenden Mitgliederzahlen, die Entlastungsstreiks in den Kliniken, die Auseinandersetzungen im Sozial- und Erziehungsdienst sowie die kompromisslose Haltung der Arbeitgeber haben die Gewerkschaftsführung gezwungen, diesen Arbeitskampf anders zu führen als die letzten. Der fast schon religiöse Glaube an die Macht und Durchsetzungsfähigkeit der Verhandlungsführer bekam Risse, und die Gewerkschaft musste sich auf das besinnen, worin ihre wirkliche Stärke liegt: Gut organisierte Belegschaften, die klug und solidarisch kämpfen.

Viele Schritte wurden dabei jedoch nur halb gegangen. Unbestreitbar hat der Arbeitskampf die Organisierung in den Betrieben gestärkt. Insbesondere der Rückgriff auf alte Erkenntnisse der Arbeiterbewegung hat diese Erfolge hervorgebracht. Eine starke, dauerhafte und schnell reagierende Organisierung ist möglich, wenn die Respektspersonen in den Arbeitsteams für den Kampf gewonnen werden. Wenn die Kolleginnen und Kollegen selbst das Subjekt des Kampfes sind, dann kann in den einzelnen Arbeitsbereichen kreativ und erfolgreich gegen die Angriffe der Arbeitgeber gekämpft werden. Dieses Potential wurde aber nicht genutzt. Die Arbeitskampfleitung war sowohl auf zentraler wie auf bezirklicher und regionaler Ebene von Hauptamtlichen dominiert, die die Stimmung in den Betrieben und die Arbeitsrealitäten nur aus zweiter Hand kennen. Die Tarifbotschafterinnen und -botschafter waren – im Gegensatz beispielsweise zu den Teamdelegierten in den Entlastungsstreiks – nicht Mitentscheider in Fragen der Arbeitskampfführung und in den Verhandlungen, sondern lediglich Informationsempfänger und Vermittlungsglieder in die Teams.

In den Arbeitskampfleitungen wurde auch wenig darüber diskutiert, wie effektiv gestreikt werden kann, die Möglichkeiten von Partizipations- und Solidaritätsstreiks wurden nur vereinzelt und nicht flächendeckend genutzt. Die Tatsache, dass es nicht einmal eine Übersicht über alle streikenden Kliniken bundesweit gab, verhinderte nicht nur gegenseitige Unterstützung und Solidaritätsbekundungen, sondern auch ein Bewusstsein für alle Streikenden, dass sie Teil einer bundesweiten Streikbewegung sind.

Weiteres Hemmnis für die Entwicklung einer gemeinsamen Streikbewegung ist die Aufteilung von ver.di in 13 Fachbereiche und die dort vorherrschende Gartenzaunmentalität. In der Regel arbeiten die Fachbereiche für sich allein, übergreifende Aktivitäten oder Solidaritätsbekundungen werden seitens der Leitungen oft als Einmischung in innere Angelegenheiten betrachtet. In dieser Tarifrunde waren die Fachbereiche nun von ver.di-Bund aufgefordert, gemeinsam die Tarifrunde anzugehen. Das fand jedoch nur vereinzelt statt. Einzelne bestärkten sogar die von den Arbeitgebern betriebene Spaltung, indem sie die Forderungen der Krankenhaus-Beschäftigten als „Sonderlocke“ bezeichneten oder behaupteten, das schlechte Ergebnis für die unteren Entgeltgruppen sei durch die hohen Steigerungen in den Krankenhäusern zustande gekommen. Dort wo es gelang, fachbereichsübergreifende Aktivitäten zu entwickeln, zeigte sich konkret die Kraft der Solidarität. So führte der Besuch von Krankenhauskolleginnen und -kollegen in anderen städtischen Betrieben und Behörden während der Arbeitsstreiks auch zu einer höheren Streikbeteiligung in eher streikschwachen Behörden. Gerade in den besser bezahlten Bereichen des Öffentlichen Dienstes ging man hauptsächlich für die Krankenhäuser, die Kitas und die Stadtreinigung mit auf die Straße.

Solidarität ist die Einsicht in das gemeinsame Interesse, und unter kapitalistischen Verhältnissen muss diese im Bewusstsein und ganz praktisch hergestellt werden. Das gilt nicht nur für die Streikenden selbst, sondern für die gesamte Klasse als Nutzerinnen und Nutzer der öffentlichen Daseinsvorsorge. Die Angriffe gegen die Streikenden, sie würden Corona-geplagte Eltern und Patientinnen und Patienten jetzt auch noch belasten, sind am besten zurückzuweisen, wenn sich diese organisiert und sichtbar in die Streikbewegung einreihen.

Siehe Teil I: Nach dem Streik ist vor dem Streik (UZ vom 13. November 2020)

Siehe Teil III: Die nächsten Kämpfe gut vorbereiten (UZ vom 27. November 2020)

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"Reicher an Kampfkraft", UZ vom 20. November 2020



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