Berliner Polizei unterschlägt Daten

Versammlungen unerwünscht

Was Versammlungsfreiheit sein soll, steht in Artikel 8 des Grundgesetzes (GG): „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“ Wie fast bei jedem Grundrecht enthält Absatz 2 des Artikels 8 GG die Einladung an die Landesgesetzgeber, die Versammlungsfreiheit wieder einzuschränken. Berlin hat dazu das am 23. Februar 2021 in Kraft getretene „Versammlungsfreiheitsgesetz“ (VersFG), dessen Regelungen – entgegen seiner Überschrift – das Recht, sich zu versammeln, auf ein Minimum zu reduziert. Zum Kanon der Einschränkungen gehört Paragraf 19 VersFG, das „Vermummungs- und Schutzausrüstungsverbot“. Freiheit­strafe bis zu einem Jahr droht den Demonstranten, die sich im Winter einen Schal zum Schutz vor Kälte ins Gesicht oder die Mütze allzu tief über die Ohren ziehen. Im Sommer löst schon das Tragen einer Sonnenbrille den Verdacht der strafbaren Handlung aus. Anonym darf nicht demonstriert werden, schließlich soll dem Gesetzeszweck zufolge die Identifikation sichergestellt sein. Das martialisch klingende Schutz­ausrüstungsverbot meint das Mitsichführen auch von Alltagsgegenständen wie Fahrradhelme oder Schutzwesten und Protektoren jeder Art. Die Gesetzesbegründung spricht hierzu von Gegenständen mit „aggressionsstimulierender Wirkung“.

Die Internetplattform „Frag den Staat“, die versucht, bundesdeutschen Behörden durch Anfragen nach dem „Informationsfreiheitsgesetz“ (IFG) auf die Finger zu schauen, startete seit Mitte März 2021 eine Vielzahl von Eingaben an die Polizei Berlin. Sie wollte wissen, wie viele Verbotsan­ordnungen die Behörde im Vorfeld von Demonstrationen zur „Vermummung“ und „Schutzausrüstung“ verhängt hatte. Obwohl das IFG eine Antwortpflicht vorschreibt und hierzu eine Monatsfrist zur Auskunftserteilung setzt und bereits vier Anfragen ohne Antwort blieben, bequemte sich die Polizei Berlin Ende Juni 2021 lediglich zur Mitteilung, es sei ein Aktenzeichen angelegt worden. Als sich auch nach weiteren drei Monaten rein gar nichts tat, erhob „Frag den Staat“ eine Untätigkeitsklage beim Berliner Verwaltungsgericht.

Beim Gerichtstermin am 29. September stellte sich dann – wie jetzt bekannt wurde – heraus, dass die Polizeibehörde es in eineinhalb Jahren nicht geschafft hat, intern überhaupt Daten über die Anordnungen zu erheben. Peinlich für die Berliner Polizei und gleichzeitig ein Eingeständnis, welchen Stellenwert das Grundrecht auf Informationsfreiheit und Transparenz staatlichen Handelns in Berlin genießt. In Artikel 5 GG heißt es „Jeder hat das Recht, (…) sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. (…) Eine Zensur findet nicht statt.“ Die effektivste Zensur findet dort statt, wo Daten schon von Grund auf gar nicht dokumentiert werden, muss sich die Polizei Berlin vorwerfen lassen. Kein Einzelfall, enthält doch das IFG etliche Klauseln, die die Informationsfreiheit leer laufen lassen. Zu nennen sind die Gebühren, die je Auskunft bis zu 500 Euro betragen können. Auf die Ausnahmetatbestände verwendet das IFG viel Platz, über 20 Bereiche gibt es, zu denen nicht geantwortet werden muss. Das reicht von den Geheimdiensten, der „Vertraulichkeit internationaler Verhandlungen“ über sämtliche „Belange der inneren oder äußeren Sicherheit“ bis zum Schutz des „geistigen Eigentums“ und Betriebs- oder Geschäftsgeheimnissen. Beispiele: Die Verweigerung der Einsicht in die Mautverträge der Bundesregierung und die Unterlagen zu den milliardenschweren Impfstoffbestellungen des Gesundheitsministeriums. Hohe Gebühren und wenig Einblick – lautet die Bilanz nach 17 Jahren IFG.

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"Versammlungen unerwünscht", UZ vom 20. Januar 2023



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