Wir sind in die Offensive gekommen

Artur Moses im Gespräch mit Michael Quetting

In der Nacht vom 18. auf den 19. September konnte in einer Marathonverhandlung eine Einigung zwischen ver.di und dem saarländischen Universitätsklinikum in Homburg (UKS) erzielt werden. Nach einer zweijährigen Auseinandersetzung war der Druck auch während der Verhandlungen zu spüren. Die hohe Streikbereitschaft: Für den Streik am 19. September wurden über 450 Betten zur Sperrung angemeldet (etwa 30 Prozent der Bettenkapazitäten), darunter 8 vollständige Stationen. Die Streikführung war bis November geplant. UZ-Interview mit dem zuständigen Gewerkschaftssekretär Michael Quetting (ver.di).

 

UZ: Kollege Michael, was haben wir nun für eine Vereinbarung?

Michael Quetting: Der Druck war sehr hoch – die Klinikleitung musste einlenken. Ob nun Tarifvertrag oder schildrechtliche

Michael Quetting

Michael Quetting

Vereinbarung. Es gibt einen verbindlichen und einklagbaren Vertrag. Als Sofortprogramm werden jetzt am UKS 145 Stellen aufgebaut und zwar zusätzlich zu den 90 unbesetzten Stellen. Die insgesamt 235 neuen Kolleginnen und Kollegen dafür zu gewinnen, ans UKS zu kommen, wird eine große Herausforderung und nicht von heute auf morgen zu realisieren sein. Darum wird eine Arbeitsgruppe aus ver.di, Personalrat und Vorstand gegründet, um Personalgewinnungskonzepte zu entwickeln und zu evaluieren, ob bessere Vergütungssysteme (z. B. TVöD) zu einer Verbesserung der Personalakquise beitragen können.

Im ersten Schritt gibt es für alle Pflegeorganisationsbereiche eine Tabelle, in der die aktuellen Soll-Besetzungen verbindlich festgeschrieben sind. Damit wird festgelegt, wie viele Menschen pro Schicht anwesend sein müssen. Wenn die Sollzahlen unterschritten werden, müssen Konsequenzen folgen. Wenn die Überlastung nicht behoben wird, gibt es einen Belastungsausgleich. Es gibt dadurch eine Untergrenze in jeder Schicht, die der Vorstand nicht ignorieren darf. Durch den Stellenaufbau wird die Tabelle kontinuierlich nach oben verbessert. Es soll nachts nicht mehr alleine gearbeitet werden und ein verbindliches Konsequenzenmanagement wird eingeführt. Gefährdungsanzeigen sind binnen von drei Tagen zu beantworten.

Bekommt die Klinik die Überlastungssituationen nicht in den Griff, sammeln die Beschäftigten „Belastungstage“. Wenn sie acht solcher Tage zusammen haben, erhalten sie im nächsten Dienstplan einen zusätzlichen freien Tag. Damit hat unser Vertrag auch einen normativen Teil, der einen individuellen Belastungsausgleich bringt, was hoffentlich viele Nachahmer auf den Plan rufen wird. Damit wurde eine Logik geschaffen, die ökonomische Anreize schafft, die Belastung zu bekämpfen und sehr gut ausbaubar ist.

UZ: Was findest du nicht so gelungen?

Michael Quetting: Unsere Forderungen waren schon weitergehend. Es gibt zwar Kontrollinstanzen, für meinen Geschmack wurden aber zu viele auf die Betriebsparteien übertragen und funktionieren nur, wenn der Personalrat für eine Durchsetzung sorgen kann. Endlich führen wir verbindliche Personalbemessungssysteme ein, aber das dauert nun 18 Monate bis auch die letzte Station davon betroffen ist. Das System mit den Belastungstagen gilt erst ab dem 1. April 2019, bei der Alleinarbeit gibt es zu viele Ausnahmen und der komplexe Vertrag ist nicht einfach anzuwenden. Wie alle Verträge beschreibt auch dieser Vertrag ein konkretes Kräfteverhältnis und ist ein Zwischenschritt in weitergehenden Auseinandersetzungen.

Wir haben dem Verhandlungsergebnis – das waren neben dem Verhandlungsführer ehrenamtliche Kolleginnen und Kollegen der Uniklinik – zugestimmt und den Streik abgesagt, weil wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt uns kein besseres Ergebnis haben vorstellen können. Das heißt aber nicht, dass wir zufrieden sind.

UZ: Was sind die konkreten Verbesserungen für die Pflegerinnen und Pfleger?

Michael Quetting: Endlich gibt es eine Untergrenze, die nicht mehr unterschritten werden darf. Überall müssen Prioritätenlisten erarbeitet werden. Es gibt einen Zwang zu Konsequenzen. Und es gibt einen – wenn auch vielleicht bescheidenen – Ausgleich für Belastungen. Die Durchsetzung von 15 neuen Stellen im nicht-pflegerischen Bereich finde ich auch beachtlich, weil es die Pflege war, die das durchgesetzt hat, indem sie 15 Stellen von sich dafür einsetzte. Wir sind eben keine Berufsgewerkschaft, sondern Krankenhaus und Gewerkschaft sind wir alle.

UZ: Und für die Bevölkerung?

Michael Quetting: Mehr Personal im Krankenhaus bedeutet bessere Versorgung der Patienten. Gesundheit geht uns alle an. Das haben viele verstanden. Eine Bürgerinitiative hatte direkt versucht, die Bevölkerung zu mobilisieren. Nächste Woche hätte es in 19 saarländischen Betrieben 10 Minuten Protest zur Unterstützung der Uniklinik-Beschäftigten gegeben. So hätte Bosch in Homburg eine aktive Mittagspause gemacht. Ein Hauch von Generalstreik hätte durchs Land geweht, die Demons­tration war schon angekündigt, die Jugend plante eine Care-Parade und vieles mehr. Uns war von Anfang an klar, solche Auseinandersetzungen gewinnt man nur, wenn die Bevölkerung hinter einem steht. Ich glaube, es gelang uns im Saarland die Hegemonie zu erreichen, weswegen jetzt in der veröffentlichten Meinung alle an dem Erfolg auch teilhaben wollen.

UZ: Die Vereinbarung am UKS Homburg reiht sich nun in eine Reihe von Erfolgen in dieser gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung ein …

Michael Quetting: Allein der Umstand, dass man in einer politischen Auseinandersetzung die tarifpolitische Karte zieht, war ja lange umstritten. Sicher ist es auch so, dass nicht alle meine Kolleginnen und Kollegen die von uns hier gewählte Methode für richtig hielten. Ich hätte mir schon ein abgestimmteres Vorgehen gewünscht. Aber das ändert nichts daran, dass wir auf einem gesellschaftspolitischen Gebiet in die Offensive gekommen sind. Das zeigt, dass es Möglichkeiten gibt, die über die klassischen Abwehrkämpfe hinausgehen. Es ist gelungen, in beachtlicher Größenordnung vollkommen neue Menschen in die Auseinandersetzung zu bringen. In diesen Kämpfen sind wir zusammengewachsen, haben Solidarität gespürt und viele Erfahrungen gesammelt.

In Essen und Düsseldorf hatten wir gewaltig was draufgelegt und an der Saar auch. Angefangen hat ja alles an der Charité, wir haben den Staffelstab immer weitergereicht. Und nun steht Augsburg in den Startlöchern. Diese Bewegung für Entlastung und mehr Personal lebt. Jetzt haben wir bewiesen, dass es auch in einer solchen Situation möglich ist, Erfolge zu erreichen.

UZ: Was könnte, was sollte aus deiner Sicht verallgemeinert werden? Mit welchen Erfahrungen lohnt es, sich weiter zu beschäftigen?

Michael Quetting: Wir haben neue Formen der demokratischen Beteiligung weiterentwickelt. Die Auseinandersetzung in Homburg wurde durch die Delegierten der Teams getragen. Über 100 dieser Delegierten waren das Herzstück der Auseinandersetzung, in der Regel neue Kolleginnen, die noch gar nicht so lange dabei sind. In der Verhandlungsnacht waren wir mit ca. 50 Kolleginnen an der Seite der Verhandlungskommission. Die Verhandlungskommission hat die Gespräche in der Nacht immer wieder unterbrochen und die Zwischenstände mit den Teamdelegierten diskutiert. Das waren durchaus komplizierte und auch kritische Diskussionen. Aber das war auch sehr solidarisch. Ich denke da haben wir viele Erfahrungen gesammelt, die es weiter zu entwickeln gilt.

Schließlich haben wir Organizer eingesetzt, um die Strukturprozesse zu entwickeln. Wir hatten in der Streikleitung klare Aufgabengebiete und Zuordnungen zu den Kliniken und die Organizer arbeiteten als Instrukteure. Erfolgreiche Arbeit muss organisiert werden. Und das ist eine verdammt harte Arbeit und stellt einen ständig vor neue Aufgaben, zumal wenn man agiert und nicht reagiert. Da sollte man morgens auch als erster aufgestanden sein und nachts nicht zu früh ins Bett gehen.

UZ: Viele Kolleginnen und Kollegen, die nun über mehrere Jahre konsequent dieses Ziel verfolgt haben, standen ja am 19. September streikbereit und entschlossen vor der Klinikverwaltung und nahmen dann wieder die Arbeit auf. Wie ist jetzt die Stimmung?

Michael Quetting: Die Stimmung bei dem Kern der 100 besonders Aktiven ist gut. Sie haben ja auch dieses Ergebnis erkämpft. Da gibt es so etwas wie Stolz. Wir erhalten Glückwünsche aus der ganzen Bundesrepublik. Auch ­„naive“ Anfragen, ob wir jetzt nicht in ihr Krankenhaus kommen wollen, um einen Tarifvertrag durchzusetzen.

Aber es gibt auch Enttäuschungen. Es werden Ungenauigkeiten erkannt und es wird diskutiert, ob es nicht doch besser gewesen wäre, wenn wir gestreikt hätten. Es gibt sehr viel Skepsis und Misstrauen gegenüber der Uniklinikleitung. Alles ist berechtigt.

Ferner gibt es auch die „Auskenner“, die nie mitmachen und nun alles besser wissen. Das schmerzt den einen oder anderen Aktivisten schon.

Wir versuchen jetzt, das Ergebnis zu vermitteln und werden nach den Redaktionsverhandlungen im Oktober die Urabstimmung durchführen. Jedes ver.di-Mitglied wird gefragt, ob wir die Vereinbarung annehmen oder nicht.

UZ: Vielleicht hat auch die andere Seite dazugelernt. Muss nicht aufgrund der Erfahrungen davon ausgegangen werden, dass die Durchsetzung der positiven Elemente dieser Vereinbarung jetzt die große Herausforderung ist?

Michael Quetting: Das ist eine der größten Herausforderungen. Es gilt, ein wirksames Berichtswesen zu entwickeln und auch Kommissionen zu besetzen. Wir brauchen aufmerksame Kolleginnen und Kollegen, die weiterhin in Strukturen zusammenarbeiten. Die Probleme sind weiter da und eine Lösung muss durchgesetzt werden.

Wir können den Vertrag erstmalig nach sechs Monaten kündigen, wie Baden-Württemberg und NRW auch. Wenn man uns verarschen will, dann sind wir in der Lage, eine Antwort zu geben, vielleicht dann gemeinsam mit vielen Unikliniken oder auch anderen Krankenhäusern.

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"Wir sind in die Offensive gekommen", UZ vom 28. September 2018



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