NATO-Gipfel in Vilnius bestätigt aussichtslosen Kriegskurs.

Zeit der Enttäuschungen

Kolumne

Der Gipfel in Vilnius werde „die Erwartungen unserer Gesellschaft enttäuschen“, erklärte Kirill Budanow, ukrainischer Geheimdienstchef, im Interview mit „The Times“. Enttäuschung auch an der Front. Hatten die NATO-Staaten von der mehrmals verschobenen ukrainischen Offensive schon keinen Sieg mehr erwartet, so doch die Verbesserung der „Verhandlungsposition der Ukraine“. Das steht in Anführungszeichen, weil es keine Verhandlungen gibt. Ein Gespräch Lawrows mit Vertretern des US-Council on Foreign Relations in New York am Rande der UN-Sicherheitsratssitzung im April deklarierten Washington und Moskau im Juli als „Nicht-Verhandlung“. Initiiert hatte es jener Flügel des US-Establishments, der das Ukraine-Engagement kritisiert, da es auf Kosten von US-Interessen in anderen Teilen der Welt und von Ressourcen für die Auseinandersetzung mit China gehe.

Beate Landefeld

An der Front war der Wunsch einer besseren Verhandlungsposition nach fünf Wochen Offensive mangels Geländegewinn obsolet. Schuld ist der Westen, der die Ukraine nicht mit der nötigen Munition versorgt habe, sagen Selenski und die Falken der NATO-Länder. Noch verdrängen sie die objektive Realität, dass die Waffenlager der NATO sich leeren und die Ukraine die Waffen schneller verbraucht als die NATO sie produzieren kann. Selenski will vielmehr wissen, dass noch nicht ausgehobene Schätze in den Waffen­arsenalen des Westens schlummern. Er will einen Teil davon! Zudem solle der NATO-Gipfel die Moral anheben, indem er einen klaren Fahrplan für den NATO-Beitritt der Ukraine beschließt.

Biden, Scholz, Stoltenberg lehnten schon ab. „Dann wären wir alle im Krieg mit Russland“, sagte Biden. Angela Merkel meinte schon 2008, als George W. Bush beim NATO-Gipfel in Budapest die Aufnahme Georgiens und der Ukraine vorschlug, Putin werde das als Kriegserklärung interpretieren. Namhafte Politologen der USA wie John J. Mearsheimer warnten über Jahrzehnte vor der Brüskierung der Sicherheitsinteressen Russlands. Sie werde irgendwann Krieg provozieren. Ende 2021 machte die Russische Föderation (RF) eigene Vorschläge zur europäischen Sicherheitsarchitektur. Ernste Verhandlungen darüber hätten den Krieg vermeiden können. Ende März 2022 sah das Istanbul-Abkommen von RF und Ukraine militärische Neutralität der Ukraine vor. Der Westen brachte es zu Fall.

Als Alternative bot Boris Johnson Selenski Waffenlieferungen für die Rückeroberung abtrünniger Gebiete. Selenski beharrt jetzt auf der Erfüllung des Pakts mittels mehr Waffen und mehr direktem Eingreifen von NATO-Staaten. Eine Idee ist eine Truppen stellende „Koalition der Willigen“. Auch die Androhung eines angeblich „russischen Anschlags“ auf das AKW in Saporischschja soll das Eingreifen mitbetroffener NATO-Staaten bewirken. Polen und baltische Länder wollen die Ukraine zwar in der NATO haben, eine „Koalition der Freiwilligen“ aber nicht stellen. Der US-Republikaner Mike Pence machte beim Besuch in Kiew deutlich, selbst die Explosion des AKW werde kein Eingreifen der NATO bewirken.

Offiziell werden die NATO-Mächte in Vilnius erneut die Unterstützung der Ukraine „as long as it takes“ (so lange wie nötig) beschwören. Dass die Waffen- und Munitionslager der NATO sich leeren, während die Friedhöfe der Ukraine sich ausdehnen, können auch sie nicht mehr lange verdrängen. Zur Begründung der Lieferung von Clusterbomben gab Biden zu, dass normale Artilleriemunition zur Neige gehe. Im britischen „Guardian“ befürchtet Simon Tisdall: „Bringt die laufende Konteroffensive keinen Durchbruch, gehen die Waffen aus, kommt eine neue Energiekrise im Winter und lässt die öffentliche Unterstützung im Westen weiter nach, besteht das Risiko, dass Selenski zu Verhandlungen gezwungen wird – sogar zum Tausch von Land für Frieden“ (8. Juli). Warum nicht gleich verhandeln? Durch die Clusterbomben wird es nicht besser werden.

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Über die Autorin

Beate Landefeld (Jahrgang 1944) ist Hotelfachfrau und Autorin.

Landefeld studierte ab 1968 Literaturwissenschaft und Soziologie an der Universität Hamburg, war Vorsitzende des Allgemeinen Studentenausschusses, Mitbegründerin des MSB Spartakus. 1971-1990 war sie im Parteivorstand der DKP, 1977-1979 Bundesvorsitzende des MSB Spartakus, später auf Bezirks- und Bundesebene Funktionärin der DKP.

Landefeld ist Mitherausgeberin, Redaktionsmitglied und Autorin der Marxistischen Blätter. 2017 veröffentlichte sie bei PapyRossa in der Reihe Basiswissen das Buch „Revolution“.

Für die UZ schreibt Landefeld eine monatliche Kolumne.

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"Zeit der Enttäuschungen", UZ vom 14. Juli 2023



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