Warnungen vor einer „Lohn-Preis-Spirale“ begleiten aktuelle Tarifrunden

Preise rauf, Löhne runter?

Lohnverzicht schafft Arbeitsplätze“ ist eine der häufigsten Behauptungen der deutschen Talkshow-Ökonomen aus dem Hause „Initiative neue soziale Marktwirtschaft“. Die „Wirtschaftswoche“ hat kürzlich diese neoliberale Ideologie um die These „Überzogene Lohnforderungen können eine gefährliche Lohn-Preis-Spirale auslösen“ bereichert. Auf Grundlage dieser These wird den Lohnabhängigen und ihren Gewerkschaften in der aktuellen Krise nahegelegt, bei den anstehenden Tarifrunden Zurückhaltung zu üben. Pünktlich zur Tarifauseinandersetzung im Bauhauptgewerbe, in der die IG BAU für die rund 900.000 Beschäftigten im Baugewerbe eine Lohnerhöhung von 5,3 Prozent und eine Lohnangleichung zwischen Ost und West sowie Regelungen zur Vergütung der Wegezeiten fordert, wird so die ideologische Munition für die Verweigerungshaltung der Kapitalseite geliefert.

Die Argumentationslinie der „arbeitgebernahen“ Wochenzeitung zur Legitimation zur Absenkung des Lebensstandards vieler arbeitender Menschen beginnt mit einer überraschend ehrlichen Beschreibung der aktuellen Verhältnisse. Angesichts der guten Auftragslage reichen die Unternehmen den Kostendruck, der mit den Produktionsengpässen verbunden ist, in Form von Preissteigerungen an ihre Kunden weiter. Auf diese Weise sollen die Gewinnmargen stabilisiert werden.
In Folge dessen würde die Verbraucherpreisinflation nicht nur wegen höherer Energiepreise steigen, sondern auch aufgrund des allgemeinen Anstiegs der Erzeugerpreise. Mit 8,5 Prozent sei die Erzeugerpreisinflation aktuell so hoch wie seit Anfang der achtziger Jahre nicht mehr. Aktuell bestehe die Gefahr, dass infolge des erwarteten Anstiegs der Verbraucherpreisinflation auch die Lohnkosten steigen. Dies würde den Inflationsdruck nicht nur in den Industriebranchen befeuern, sondern auch im Dienstleistungssektor und damit in der gesamten Wirtschaft, argumentiert die „Wirtschaftswoche“.

Dieser Logik folgend, soll die sich abzeichnende Inflation durch Lohnzurückhaltung der arbeitenden Menschen eingedämmt werden. Eine Antwort auf die Frage, warum die Preise steigen, obwohl in vielen Branchen seit Jahrzehnten Niedriglöhne gezahlt werden, liefert diese neoliberale Krisenanalyse nicht. Dies ist auch nicht deren Absicht. Stattdessen soll der Abwälzung der Krisenlasten auf die Lohnabhängigen durch die Herrschenden ein pseudowissenschaftlicher Anstrich verpasst werden. Hierzu werden Ursache und Wirkung vertauscht. Statt das Absinken der Reallöhne als Folge der Inflation zu benennen, werden Lohnerhöhungen als vermeintliche Ursachen für die Inflation ins Feld geführt. Wenn am Ende des Monats das Geld in vielen Arbeiterhaushalten fehlt, sei dies nicht die Folge von zu niedrigen, sondern von zu hohen Löhnen. Dieser neoliberalen Logik folgend, könnte man auch behaupten, wenn im Frühjahr die Schneeschmelze einsetzt, sei dies nicht die Folge von steigenden, sondern von zurückgehenden Temperaturen. So werden aus den Leidtragenden des neoliberalen Umbaus der letzten Jahrzehnte die eigentlichen Verursacher der Krise gemacht. Die Ursache der Krise ist dieser Logik folgend nicht die kapitalistische Produktionsweise und die damit verbundene Konzentration ungeheuren Reichtums in immer weniger Händen, sondern angeblich exorbitante Lohnerhöhungen.

Die Etablierung des größten Niedriglohnsektors in Europa erscheint so in einem ganz anderen Licht. Leiharbeit, Werkverträge, Minijobs und andere Formen prekärer Beschäftigung können auf Grundlage dieser Analyse als angeblich hervorragender Schutz vor Inflation verkauft werden und Tarifflucht dient nicht der Profitmaximierung, sondern ist gelebte Krisenprävention. Wer hingegen einen gesetzlichen Mindestlohn von 12 Euro oder mehr fordert, beschwört die Hyperinflation herauf. Selbst den Werkschließungen und Massenentlassungen bei Continental, Bosch und Daimler kann so die Absolution erteilt werden. Auch die staatlichen Subventionen in Milliardenhöhe für die großen Konzerne bei einem gleichzeitig viel zu niedrigen Kurzarbeitergeld für viele Beschäftigte erscheinen unter dieser Prämisse nicht als gigantische Umverteilung, sondern als kluge Krisenstrategie. Wer glaubt, dass solche Vorstellungen so abstrus sind, dass sie niemals mehrheitsfähig in Gesellschaft und Politik werden können, sei an die Rentendebatte der 2000er Jahre erinnert. Damals wurde von der Wirtschaftslobby erfolgreich die Lüge in die Welt gesetzt, dass die Höhe der Rente keine Verteilungsfrage, sondern eine Frage der Demographie sei.

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"Preise rauf, Löhne runter?", UZ vom 15. Oktober 2021



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