Über die westliche Ermächtigung zu Strafmaßnahmen

Sanktionierte Wahrheit

So wie viele lateinische Worte hat auch das Wort „sanctio“ eine ganze Reihe von teils recht unterschiedlichen Bedeutungen im Deutschen. Mehrere haben mit „Erlass/Verordnung/Verbot“ zu tun, andere greifen in den Bereich „Vertrag“; wieder andere gehen Richtung „Bußgeld/Strafe“. Immerhin, ein grober Rahmen: Rechtswesen im Allgemeinen. „Sanktion“ kennt auch eine Abweichung, nämlich die Billigung. Denn wenn etwas „sanktioniert“ wird, kann es Gesetz werden, aber auch einfach gutgeheißen.

Reden wir über Strafen. Die sind als Folge vorgesehen, wenn jemand etwas gesellschaftlich Geächtetes getan hat. Dazu muss der Übeltäter ein strafmündiges Rechtssubjekt sein; zum anderen braucht es eine unabhängige Institution, die die Strafe ausspricht. Über Jahrhunderte reichte dafür eine weitsichtige Gottheit, die ihr Geglaubtwerden durch Hinterlassung ihrer Rechtsauffassung unterstrich – gern mündlich, was die Interpretation für die Auslegungsberechtigten vereinfachte.

Geht es um Staaten, meint die Sanktion in der Regel eher eine Bestrafung als eine Billigung. Nun sind die „westlichen Staaten“ noch nicht wieder so weit, sich über das übliche, irrationale Maß hinaus auch juristisch auf Gottes Wort zu verlassen. Daher sollte die „Sanktion“ idealerweise von einem Richter kommen – aber ein Richter, der Strafen verhängen kann, muss einem Gericht unterstehen. Den Internationalen Gerichtshof (IGH) gibt es auf UN-Ebene zwar, aber Sanktionen setzt es unabhängig von dessen Anrufung. Der Gerechtigkeit halber setzt niemand auf den IGH.
Also muss ein Staat als eine der beteiligten Seiten entweder über eine unantastbar große Menge von fallbezogener, selektiv einsetzbarer Moral oder – besser – schlicht über „die Wahrheit“ verfügen, will er sich ermächtigen, eigenständig Strafen gegen einen anderen Staat verhängen zu können. Nun wissen Marxisten, dass Wahrheit das Zusammenwirken eines Geschehens mit dem, was für die Menschen darüber konkret erfahrbar wurde, und bestimmten, verallgemeinerbaren Werten des Zusammenlebens ist. Wahrheit ist das Ergebnis aus gesellschaftlicher Erfahrung und geschichtlichen Abläufen, also abhängig von der Praxis. Als ein geschichtlicher Prozess ist die Wahrheit also relativ.

Das heißt: Sie steht nicht fest. Und befindet sich damit in einem gewissen Spannungsverhältnis zu den Ideen der Sanktionsexperten in Berlin.

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"Sanktionierte Wahrheit", UZ vom 25. März 2022



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