Zu Öffnungsklauseln in Tarifverträgen

Tarifflucht auf Raten

Kollektiv erstrittene Mindeststandards von Arbeitsbedingungen waren der Kapitalseite von jeher ein Dorn im Auge. Daher überraschen die jüngsten Forderungen von „Arbeitgeber“-Präsident Rainer Dulger nach weiteren Öffnungsklauseln in Tarifverträgen nicht wirklich. Denn das, was er am 7. Januar gegenüber „dpa“ als „zusätzliche Handlungsspielräume für Flexibilisierung und Modernisierung des Tarifrechts“ beschreibt, ist letztlich nichts anderes als organisierte Tarifflucht auf Raten.

So schlägt der oberste Unternehmervertreter unter anderem vor, dass Unternehmen durch mehr Öffnungsklauseln in Tarifverträgen nur den Entgeltrahmen übernehmen, ohne gleichzeitig auch umfangreiche Regelungen zur Arbeitszeit umsetzen zu müssen. „Wer geht denn heute noch in die Tarifbindung, wenn man sich an viel zu starre, teure Tarifwerke binden muss?“, so bringt Dulger die Interessenlage seiner Klasse auf den Punkt.

Dieser Logik folgend wird Tarifflucht von der Kapitalseite immer häufiger als ein äußerst wirksames Instrument der Profitmaximierung praktiziert. Für die Lohnabhängigen hingegen bedeutet das Aufkündigen von Tarifverträgen, dass regelmäßige Lohnerhöhungen, Urlaubsansprüche, Weihnachts- und Urlaubsgeld, entsprechende Zuschläge oder Mitbestimmungsrechte zur Disposition gestellt werden. Aber auch dort, wo Tarifverträge eigentlich Gültigkeit haben, werden diese von der Kapitalseite systematisch unterlaufen, indem diese in einigen Punkten nicht oder anders angewandt werden. Daher ist die Forderung Dulgers nach mehr Flexibilisierung nichts anderes als ein Versuch der nachträglichen Legalisierung vielfacher betrieblicher Praxis.

Aus Sicht der Beschäftigten hingegen müsste der zunehmenden Tarifflucht durch gesetzliche Bestimmungen entgegengewirkt werden. Hierzu haben Gewerkschaften eine Reihe von Maßnahmen vorgeschlagen. Ein erster wichtiger Schritt wäre, statt mit Steuergeldern Lohndumping mit aktuell einem jährlichen Volumen von 42 Milliarden Euro zu finanzieren, öffentliche Aufträge und Fördergelder nur noch an tarifgebundene Unternehmen zu vergeben. Ein weiterer Hebel wäre, Allgemeinverbindlichkeitserklärungen von Tarifverträgen zu vereinfachen. Der Gesetzgeber hätte es auch in der Hand, bessere Regelungen zu Nachbindung und Nachwirkung von Tarifverträgen zu schaffen. Dies gilt insbesondere im Fall von Aufspaltung, Abspaltung oder sonstigen Änderungen im Rahmen des Umwandlungsrechtes oder eines Betriebsüberganges. Hier müssten Tarifverträge kollektiv fortgelten.

Um gegen das systematische Unterlaufen von Tarifverträgen wirkungsvoll vorgehen zu können, wäre die Einführung eines Verbandsklagerechtes für Gewerkschaften hilfreich. Leider zeichnet sich Politik hier nicht durch engagiertes Handeln, sondern durch eine Mischung von Ignoranz, Unwissenheit über mögliche Handlungsoptionen und grobe handwerkliche Fehler bei der Umsetzung entsprechender Gesetze aus. Daher bleiben der beste Schutz vor Tarifflucht gut organisierte und im Verbund mit ihrer Gewerkschaft arbeitskampffähige Belegschaften.

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"Tarifflucht auf Raten", UZ vom 22. Januar 2021



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