Zum 90. Geburtstag des Dichters Heiner Müller am 9. Januar 2019

„Wer stehn bleibt, fällt! Geht weiter!“

Von Rüdiger Bernhardt

Heiner Müllers Werk ist aktuell und modern, betrachtet man es in seinem Verhältnis zur gegenwärtigen Weltsituation und -entwicklung, wirkt es noch moderner und zukunftsweisender. Kurz vor seinem Tod entstand das gewaltige Gedicht „Ajax zum Beispiel“, die Antike aufrufend, in der Müller mörderische Brutalität gesehen hatte statt Winckelmannscher Klassizität. Das Gedicht beschrieb die Zeit nach 2000: Es „wird den Advokaten gehören die Zeit/steht als Immobilie zum Verkauf/im Hochhaus unter dem Mercedesstern“. Müller hatte sein Leben lang die schreckliche Vergangenheit der Menschheit beschworen, um deren Zukunft denken zu können. Sein Wissen um die Vergangenheit half ihm zum Verständnis der Gegenwart nach 1990, in der eine scheinbar besiegte Ausbeutung wiederkehrte. Sein Thema war von Anfang an, „den Kampf zwischen Altem und Neuem … in das neue Publikum zu tragen, das ihn entscheidet“ („Der Lohndrücker“). Sein Geschichtsbild reichte von der Eiszeit bis zur Kommune, von der „Vorgeschichte“ bis zum Kommunismus. Die „Vorgeschichte“ bestand aus unmenschlichen Beziehungen und reichte „vom Trojanischen bis zum Japanischen Krieg“ (Anmerkung zu „Philoktet“). Barka in Müllers Stück „Der Bau“ beschreibt seine Stellung im weltgeschichtlichen Prozess: „Ich bin/Der Ponton zwischen Eiszeit und Kommune.“

Der Dichter, der am 9. Januar 2019 seinen neunzigsten Geburtstag gefeiert hätte, hat uns ein Werk zum Gebrauch hinterlassen. Müllers Weg in die Zukunft ist ein Weg des Kampfes, wie fragil die Hoffnung der Menschen auf den Kommunismus ist, musste der Dichter erleben. Er, der seinen Barka auf einem Ponton zwischen Eiszeit und Kommune sah, hatte die Eiszeit überstanden geglaubt, aber sah sich in diese zurückgeschleudert. Wegen seines Geschichtsbildes mit den fernen Konturen des Kommunismus war er bereits mit der Partei- und Staatsführung der DDR in Konflikt geraten: Die wollte Erreichtes als Größtes gewürdigt wissen und kritisierte, wer das anders verstand. 1988 setzte Müller einmal mehr dagegen: In dem Text „Shakespeare eine Differenz“ heißt es im Duktus Georg Büchners: „… der Abgrund ist die Hoffnung“. Die politische Führung reagierte von Beginn an ablehnend, sie schloss ihn 1961 aus dem Schriftstellerverband der DDR aus – Müller sah darin eine durchaus hohe Wertschätzung für Literatur –, nahm ihn 1988 wieder auf; nie aber ließ sie ihn fallen.

Heiner Müller wurde am 9. Januar 1928 in Eppendorf (Sachsen) geboren. Beim Reichsarbeitsdienst und im Volkssturm erlebte er 1944/45 das Ende des Zweiten Weltkrieges. Als seine Eltern 1951 in den Westen flohen, blieb er in der DDR, ging nach Berlin und betätigte sich als Kritiker und Journalist. National und international wurde er, nach Rückschlägen und Schwierigkeiten, ein anerkannter Dramatiker der DDR. Seine Rede am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz, bei der größten Demonstration in der DDR in der Umbruchszeit und sich einsetzend für den Erhalt der DDR als eines sozialistischen Staates, galt einer anderen DDR; die Möglichkeiten waren aber durch das Kapital der BRD bereits zerstört worden. Nach 1990 wurde er Präsident der Akademie der Künste (Ost), erhielt den Europäischen Theaterpreis und wurde 1992 bis 1995 Direktoriumsmitglied im Berliner Ensemble, wo er von 1970 bis 1976 bereits Dramaturg gewesen war, 1995 wurde er der alleinige künstlerische Direktor.  Am 30. Dezember 1995 starb er an Krebs, am 16. Januar 1996 wurde er auf dem Berliner Dorotheenstädtischen Friedhof beigesetzt.

Seine Werke signalisieren auf den ersten Blick, dass der „Arbeit“ größte Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Wenn zwei Bände der Werkausgabe 1974 im Rotbuch Verlag den Titel trugen „Geschichten aus der Produktion 1 und 2“, dann beschreibt das Müllers Werke präzise und gilt für Lyrik, Prosa und Dramatik gleichermaßen: Es ging beim Begriff „Geschichten“ nicht um die literarische Kategorie, sondern um Inhalt. Das Thema seines Werkes lässt sich trotz der Vielschichtigkeit und Unterschiedlichkeit der Inhalte und trotz ihrer Herkunft von der Antike bis zur Gegenwart leicht umreißen: Herakles gehört zu Müllers Lieblingsgestalten, er ist ein arbeitender Halbgott, der durch Arbeit den Himmel überwindet, er „rollt den Himmel ein und steckt ihn in die Tasche“ („Herakles 5“). Müllers antike Gestalten werden entgöttlicht und durch Arbeit vermenschlicht. Heiner Müller ist der wichtigste marxistisch denkende und arbeitende Dramatiker der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Grundlage für sein Denken schufen Philosophen von Hegel bis Marx, Félix Guattari bis Michel Foucault und der Dramatiker Brecht, er gilt als sein genialer Schüler. Er sah Lenin unter seinen Lehrern („Immer vor uns seine Stimme“ in seinem „Lenin-Lied“, um 1969/70) und hielt die Oktoberrevolution für den Beginn der „Geschichte“ des Menschen.

Zu den Konstanten seines Werkes gehört das von ihm ersehnte „Schöne“ als das Ende der Schrecken und des Terrors, wobei Terror bei Müller historisch bereits in der Antike vorhanden war – statt antiker Schönheit sah er dort Morde und Kriege („Elektratext“), gleichfalls war für ihn die brutale Verdrängung des Menschen in Armut, Not und Hilflosigkeit ebenfalls eine Form des Terrors. Um das im Blick zu behalten, ist es nötig, die Polarität von Schrecken und Hoffnung, die Heiner Müller stets zu vermitteln suchte, zu akzeptieren, um sie zu bekämpfen. „Geschichte“ war in seinem Weltbild gekennzeichnet durch Menschlichkeit und bedeutete Zukunft. In der Oktoberrevolution sah er den Beginn des Übergangs von der „Vorgeschichte“ zur „Geschichte“. Für Müller war der Kommunismus Ziel der Weltgeschichte. In „Zement“ wurde der Weg beschrieben: „Unser Kampf hat erst angefangen, und wir haben einen langen Weg vor uns. Wir werden ihn auf unsern Füßen nicht zu Ende gehn …, aber die Erde wird allerhand Blut saufen, eh wir das Ziel wenigstens aus der Ferne sehn. Die einen werden ersaufen im Blut der andern, und wir haben nur eine Gewissheit: Wir haben mehr Blut.“

Die Vorgänge von 1989 brachten Heiner Müller die Erkenntnis, dass der Beginn seiner „Geschichte“ vertagt worden war. Trotz der Enttäuschungen und Ernüchterungen gab er die Hoffnung nicht auf und sprach vom „vorläufigen Grab der Utopie, die vielleicht wieder aufscheinen wird, wenn das Phantom der Marktwirtschaft, die das Gespenst des Kommunismus ablöst, den neuen Kunden die kalte Schulter zeigt, den Befreiten das eiserne Gesicht der Freiheit.“

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Über den Autor

Rüdiger Bernhardt (Jahrgang 1940). Nach dem Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Skandinavistik und Theaterwissenschaft (Prof. Dr. sc. phil.) tätig an Universitäten des In- und Auslandes und in Kulturbereichen, so als Vorsitzender der ZAG schreibender Arbeiter in der DDR, als Vorsitzender der Gerhart-Hauptmann-Stiftung (1994-2008) und in Vorständen literarischer Gesellschaften. Verfasser von mehr als 100 Büchern, Mitglied der Leibniz-Sozietät, Vogtländischer Literaturpreis 2018.

Er schreibt für die UZ und die Marxistischen Blätter Literaturkritiken, Essays und Feuilletons zur Literatur.

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"„Wer stehn bleibt, fällt! Geht weiter!“", UZ vom 11. Januar 2019



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