Anfang vom Ende der Dollardominanz

Die große Enteignung

Kolumne

Schon in der ersten Runde der Sanktionen gegen Russland nach der Invasion russischer Truppen in der Ukraine hatten die Regierungen der EU und der NATO den besonders schlauen Einfall, den russischen Staat auf einen Schlag um gut 300 Milliarden Euro zu erleichtern. Sie sperrten die Konten, die die russische Zentralbank bei den Zentralbanken der Euroländer und der USA unterhält. Das erklärte Ziel dieser faktischen Enteignung war, die Finanzierung des Krieges gegen die Ukraine zu erschweren und die russische Wirtschaft zu „ruinieren“ (Zitat Annalena Baerbock). Russland hat daraufhin angekündigt, seine Rohstoffe, vor allem sein Erdgas und Erdöl, an „unfreundliche Staaten“, darunter Deutschland, nur noch gegen Bezahlung in Rubel statt wie bisher in Dollar oder Euro zu liefern – und hat damit Ernst gemacht. Die EU-Mitgliedstaaten Polen und Bulgarien, die der von der EU-Kommission ausgegebenen Orientierung gefolgt sind, die „Sanktionen nicht zu unterlaufen“ und sich dieser „Erpressung“ nicht zu beugen, müssen bereits ohne die russischen Lieferungen auskommen.

Lucas Zeise

In den übrigen EU-Staaten, so auch in Deutschland, stieg im Laufe des jetzt zu Ende gehenden Monats Mai die Spannung, ob die Importeure von Erdgas die fälligen Rechnungen in Rubel zahlen würden oder ob andernfalls die Zufuhr von Gas aus Sibirien wegen Nichtbezahlung abgeklemmt werden würde. Wir wissen heute mehr. Die Öl- und Gasimporteure der meisten EU-Länder haben ihre Rechnungen in Rubel bezahlt und werden weiter von der russischen Seite beliefert. Konkret läuft es so, dass sie neben ihrem Eurokonto ein Rubelkonto bei ihrer Bank einrichten lassen, sodass die Bank die von ihnen gezahlten Eurobeträge auf das Rubelkonto transferiert, von dem aus dann den russischen Lieferanten (Gasprom oder Rosneft oder so) die Rechnungsbeträge überwiesen werden. Praktischerweise ist diese Bank in den meisten Fällen die Gasprombank, die von den Sanktionierern des Westens gegen russische Banken schon Ende Februar ausgenommen wurde, damit sie diese Funktion der Zahlungsabwicklung der Energielieferungen weiter wahrnehmen kann.

Zwei Schlüsse lassen sich ziehen: Erstens, die EU-Kommission (und die sie tragenden Regierungen) gibt sich in ihren öffentlichen Aussagen radikaler als sie ist. Zweitens, der russische Staat reagiert auf die radikalen Sanktionen des Westens flexibel und hofft anscheinend, dass die alten guten Geschäftsbeziehungen mit EU-Europa bald wieder aufgenommen werden können.

Ob das für die eingangs erwähnte Sperrung der Guthaben der russischen Zentralbank im Westen auch gilt, ist mehr als fraglich. Das sieht man auch im Westen so. Nur einen Monat, nachdem die Sperrung der Zentralbankkonten erfolgt war, meldeten sich warnende Stimmen. Besonders bemerkenswert war die Warnung von Gita Gopinah, die nach drei Dienstjahren als Chef-Volkswirtin des Internationalen Währungsfonds vor kurzem zu dessen Vizechefin aufgestiegen war. Die Folge der Maßnahmen könne zu einer Zersplitterung des internationalen Finanzsystems und zu einer Aufweichung der führenden Rolle des Dollars führen, sagte sie.

Kontoguthaben einer Zentralbank bei einer anderen in deren Währung sind neben dem Gold die einzige Form der Wertaufbewahrung eines Staates. Sie werden als Devisenreserven bezeichnet und dienen, wie der Ausdruck Reserve sagt, in Notzeiten zur Verteidigung der eigenen Währung und damit der gesamten Volkswirtschaft. Noch etwa 60 Prozent dieser Zentralbankguthaben werden derzeit in Dollar gehalten, weitere etwa 20 Prozent in Euro. Es ist offensichtlich, dass nicht nur China und Russland, sondern viele andere Länder sich nach alternativen Währungen umsehen werden, in denen sie ihre Reserven halten. Die Enteignung der russischen Zentralbank wäre damit der Anfang vom Ende der schon über ein Jahrhundert dauernden Finanzherrschaft des Dollars.

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Über den Autor

Lucas Zeise (Jahrgang 1944) ist Finanzjournalist und ehemaliger Chefredakteur der UZ. Er arbeitete unter anderem für das japanische Wirtschaftsministerium, die Frankfurter „Börsen-Zeitung“ und die „Financial Times Deutschland“. Da er nicht offen als Kommunist auftreten konnte, schrieb er für die UZ und die Marxistischen Blättern lange unter den Pseudonymen Margit Antesberger und Manfred Szameitat.

2008 veröffentlichte er mit „Ende der Party“ eine kompakte Beschreibung der fortwährenden Krise. Sein aktuelles Buch „Finanzkapital“ ist in der Reihe Basiswissen 2019 bei PapyRossa erschienen.

Zeise veröffentlicht in der UZ monatlich eine Kolumne mit dem Schwerpunkt Wirtschaftspolitik.

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"Die große Enteignung", UZ vom 27. Mai 2022



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