Zu „Volker Braun. Leben und Schreiben in der DDR“ von Hannah Schepers

Wie ein Dichter klein gemacht werden soll

Von Rüdiger Bernhardt.

Hannah Schepers

Volker Braun. Leben und Schreiben in der DDR.

Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag,

2015. 478 S., 29,95 Euro

Über Volker Braun ist viel geschrieben worden; der „Großschriftsteller der DDR“, wie er auch bezeichnet wird, und Büchner-Preisträger von 2000 hat seine Leser, Kritiker und die Literaturwissenschaft immer angeregt und beschäftigt: mit seinen literarischen Leistungen, mit seinen imposanten Denkgebäuden und mit seiner konsequenten Haltung. Er fordert viel von seinen Lesern, wenn sie ihm folgen wollen und von den gegenwärtigen Verhältnissen und den ihnen innewohnenden Widersprüchen ausgehen. Leicht hat er es keiner Seite gemacht, weil sich seine Werke aus seinem Leben und Denken in der DDR ergaben, aber nie nur Kritik an der DDR, sondern Kritik grundsätzlicher Gesellschaftsverhältnisse waren. Trotz einer Fülle von Literatur über ihn und auch mancher Bücher lag bisher noch keine geschlossene Gesamtdarstellung vor. Diese Lücke sollte durch die vorliegende Arbeit, die aus einer Dissertation hervorgegangen ist, geschlossen werden. Kein Zufall war, dass die umfangreiche Arbeit nun leicht zugänglich in Volker Brauns ehemaligem Verlag, dem Mitteldeutschen Verlag Halle, erschien, denn dieser Verlag hat mit dem Werk Brauns und einer zehnbändigen Ausgabe „Texte in zeitlicher Folge“ einen wesentlichen Teil seines Profils erhalten. So etwas verpflichtet zu einer Art Fürsorgepflicht gegenüber dem Autor.

Um es vorwegzunehmen: Die Lücke klafft nach wie vor; aber die Arbeit macht deutlich, was zu leisten ist, will man sie schließen; sie hat es nicht geschafft. Und auch dem Verlag muss man sagen: Das ist nicht die Fürsorgepflicht, die man von ihm erwarten konnte, ja musste. Dennoch ist die Publikation aufschlussreich, weil sie mit ihren Mängeln ausweist, was Volker Braun von seinen Lesern verlangt und was er anbietet. Hier wurde das verdrängt, er selbst in eine Ecke gestellt, die dunkler nicht sein konnte: „Der innere Zwiespalt zwischen Aufbegehren und Systemtreue blockiert ihn selbst und macht sein Handeln für die Außenwelt undurchschaubar.“ (426 f.) Wer so schreibt, hat von Brauns Denken und Werk nichts begriffen oder versucht in bösartiger Weise ein erstaunliches literarisches Werk der deutschen Literatur zu entwerten, um es zu verdrängen.

Das Verfahren hat sich eine spezielle Methode geschaffen: Die Darstellung des literarischen Werks geht vom Klischee des „Spannungsverhältnisses zwischen Sprache und Macht“ (12) im Werk Volker Brauns aus, ohne eines seiner Werke zu analysieren. Falls sich ein erläuternder Versuch einschleicht, wird er zur Parodie: Das berühmte Gedicht „Das Eigentum“ (1990), das Brauns Abwehr von westlichem Wohlstand ausweise, habe er schreiben können, weil er durch seine Reisen in den Westen „ein zumindest oberflächliches Bild von den dortigen Lebensumständen“ (433 f.) gehabt habe. Dass, in Versalien gedruckt, in dem Gedicht ein alternatives Zitat zu Georg Büchner steht, ist der Verfasserin kein Wort wert: „KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN“.

Brauns Hoffnungen waren 1989 zerstört worden. Statt Büchners „Krieg den Palästen“ drohte trotz westlicher Lebensumstände den Hütten Zerstörung. Ob sprachliches Unvermögen oder Absicht, selbst der zentrale Vorgang des Gedichtes ist bei der Autorin nicht eindeutig: Bei Braun verlässt sein Land ihn, aber hier heißt es: „Im Gedicht sagt das lyrische Ich, es fühlt sich außer Stande, weiter ‚mein Land‘ zu sagen. Stattdessen habe es ihm ‚den Tritt‘ versetzt.“ (434) Wer hat wen getreten?

In der Darstellung wirkt sich der Grundirrtum der Arbeit aus. Bereits der erste Satz verrät ihn: Braun wird zitiert mit seiner Beschreibung des „aufwühlendste(n) Widerspruchs zwischen den Leuten“ (11); daraus wird geschlussfolgert, Braun prangere „das Machtungleichgewicht zwischen den oberen und den unteren Gesellschaftsschichten an“ (11). Aber Braun widmet sich dem Gegensatz von oben und unten in allen Systemen und betreibt Ernüchterung, keine Harmonisierung. Er widmet sich grundsätzlich Gegensätzen, nicht Übereinstimmungen. Es sind auch nicht die Lebensumstände, westlicher Wohlstand und die Konzentration auf Konsumgüter, die Volker Braun angreift – so kurz hat dieser Dichter nie gedacht –, sondern es war die „Hoffnung“ als Ziel und der Weg als Erreichtes. Es stand in dem Gedicht, aber man muss lesen können. Zusätzlich verkennt die Autorin die Begriffe: Braun hat Philosophie studiert, auf die Inhalte seines Studiums und auf seine philosophischen Lehrer geht die Arbeit nicht ein. Gegensatz und Widerspruch sind für Braun philosophische Kategorien, keine Ausdrücke des Protests. Der Philosoph Braun entwickelt in seinem Werk eine Ästhetik der Widersprüche; Widerspruch ist nicht gleich Kritik, wie Hannah Schepers meint und auf einem Höhepunkt des Missverstehens formuliert, Braun schwanke zwischen „Anpassung und Widerstand“ (143).

Bereits die Beschreibung der Untersuchungsmethode erweist sich als kabarettreif: Statt einer „literaturwissenschaftliche(n) Sicht“ (15), auf die Schepers verzichtet, wird eine „sachorientierte (…) Perspektive“ (13) gewählt, die sich als ideologische erweist. Ein Dichter wird ohne literarische Kompetenz beurteilt, auf ästhetische Wertung wird verzichtet, eine sachorientierte Perspektive – was auch immer das ist – bevorzugt und diese aus der für Brauns Werk falschen Wirklichkeit, der Bundesrepublik, bezogen. Das führte zu einer paradoxen Abschlussbewertung: In der Zeit seit 1990, 20 Seiten gegenüber 420 Seiten bis 1989, wirke Braun, „ohne neue soziale Entwürfe zu entwickeln, die in einem System wie der Bundesrepublik umsetzbar wären“ (443), als wäre es Braun auch nur ein einziges Mal um dieses System gegangen.

Brauns großes Werk nach 1989 mit den bisher zweibändigen „Werktagen“, „Das unbesetzte Gebiet“, „Die hellen Haufen“ und anderen Werken wird pauschal als überholt abgetan, eine „breite Öffentlichkeit“ erreiche er damit „trotz seiner gesamtdeutschen Perspektive“ (438) nicht. Das kann nur sagen, wer Volker Brauns Denken auf die Borniertheit und Kleinkariertheit dieser Perspektive beschränkt und von diesem Dichter und Philosophen nichts, aber auch gar nichts begriffen hat, sein Publikum nicht kennt. Das alles stützte sich auf entsprechend ausgewählte Sekundärliteratur; große Teile der linken Presse, vor wie nach 1989, wurden ausgeschlossen.

Ein bevorzugtes Wort des Buches ist „versteckt“ und „verstecken“. Braun verstecke „Missbilligung in seinen literarischen Texten“ (141); man fragt sich, warum er dann überhaupt schreibt, wenn er versteckt. Aber auch das Ministerium für Staatssicherheit „versteckt“ seine Ziele „unter dem Schein der rein wissenschaftlichen Beteiligung von Literaturexperten“ (184) – der Satz ist so sinnlos, dass man ihn gar nicht zu erläutern vermag. Auch anderes bleibt hinter vorhandenem Wissen zurück. Es werden unbestätigte Thesen beim Bitterfelder Weg (38 ff., 71. 139 u. ö.) benutzt, zur Lyrikentwicklung (189); sie verwendet falsche (Zulassungspolitik, 37) und sogar justiziable Lügen (Braun habe seine Unterschrift gegen die Biermann-Ausbürgerung zurückgezogen, 234 u. ö.). Zahlreiche Fehler und Lücken (der Einfluss Hans Mayers, das Philosophiestudium Brauns, schreibende Studenten, unerwähnte Werke), der Verzicht auf Brauns Beschäftigung mit Traditionen, besonders der Aufklärung (Diderot für Hinze-Kunze) und Georg Büchners, machen die Arbeit weiter wertlos. Zitate wurden nicht überprüft oder sind ungenau (Anm. 262 u. a.).

In der Danksagung Hannah Schepers’ wird Günther Rüther für die Betreuung gedankt; es fällt schwer, den Zustand der Untersuchung allein der Autorin zuzuschreiben. Rüther hatte eine ähnliche Vorstellung von Braun; er warf ihm 1992 vor, keine „konkreten Angaben zu einer zukünftigen Gesellschaftsordnung“ („Greif zur Feder, Kumpel“, S. 192) nach 1990 gemacht zu haben. Das ist von ähnlicher Qualität wie seine Feststellung über den Bitterfelder Weg: „Bitterfeld wurde zu keinem Weimar.“ (a. a. O., S. 90) und bemerkenswert ist auch, dass er wie seine Schülerin auf Originaltexte oft verzichtete und sich meist dubioser Sekundärliteratur bediente, die von ähnlicher Unkenntnis und Voreingenommenheit geprägt war.

Es bleibt neben dem Ärger über so viel Unwissenheit oder vielleicht auch Absicht, um einen großen deutschen Dichter zu beschädigen, schließlich nicht viel: Material aus Verlagsarchiven (Reclam, Suhrkamp) macht sie brauchbar; doch weiß man bei dieser Arbeit nicht, wie weit auch dieses Material aus seinen Zusammenhängen gelöst wurde. Es fehlt ein Register.

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Über den Autor

Rüdiger Bernhardt (Jahrgang 1940). Nach dem Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Skandinavistik und Theaterwissenschaft (Prof. Dr. sc. phil.) tätig an Universitäten des In- und Auslandes und in Kulturbereichen, so als Vorsitzender der ZAG schreibender Arbeiter in der DDR, als Vorsitzender der Gerhart-Hauptmann-Stiftung (1994-2008) und in Vorständen literarischer Gesellschaften. Verfasser von mehr als 100 Büchern, Mitglied der Leibniz-Sozietät, Vogtländischer Literaturpreis 2018.

Er schreibt für die UZ und die Marxistischen Blätter Literaturkritiken, Essays und Feuilletons zur Literatur.

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"Wie ein Dichter klein gemacht werden soll", UZ vom 24. Februar 2017



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