Zu Siegfried Lenz‘ Roman aus dem Nachlass „Der Überläufer“, der in der jungen Bundesrepublik nicht erscheinen durfte

Ein Dokument der Zensur

Von Rüdiger Bernhardt

Siegfried Lenz: Der Überläufer. Hoffmann und Campe, 368 S., 25.- Euro

Der Wehrmachtssoldat Walter Proska, auch als „Assistent des Gewissens“ (298) bezeichnet, fährt vom Heimaturlaub im masurischen Lyck 1944 an die zusammenbrechende Ostfront. Der Zug wird von Partisanen gesprengt und statt an der Front findet sich Proska, der die Sprengung als einziger überlebt, an einem Stützpunkt für ein Kommando wieder, das die Bahnstrecke bewachen soll, aber mit sechs Mann und einem Unteroffizier auf verlorenem Posten gegen die Partisanen steht. Proska erlebt konzentriert auf engstem Raum und in einer kleinen Einheit, zusätzlich abgeschieden durch bedrohliche Sümpfe, den barbarischen Krieg ebenso wie den menschenverachtenden Drill der Wehrmacht im Zeichen des „nationalistischen Ressentiments“ (238). Es ist bei Rokitno und den Rokitno-Sümpfen, die 1943/44 von Partisanen beherrscht werden; der deutsche Vormarsch ist Niederlagen und Flucht gewichen. Nach schrecklichen Verbrechen – unter anderem wird ein Pfarrer von einem deutschen Korporal hinterrücks erschossen – läuft Proska zur Roten Armee über und kämpft auf ihrer Seite, dabei in einer gespenstischen Szene den eigenen Schwager als Gegner erschießend, handelnd, wie er glaubte „handeln zu müssen“.

Nach Kriegsende wird er von der Roten Armee in der Sowjetischen Besatzungszone als Bürgermeister eingesetzt. Als er die stalinistischen Säuberungsaktionen spürt und sich bedroht meint, geht er in den Westen. Während er in der sowjetischen Besatzungszone erlebte, wie um sozialistische Positionen gerungen und dabei Fehler gemacht wurden, erlebt er in der westlichen Besatzungszone – konzentriert auf einer Anzeigentafel – eine Rückkehr zu einer Alltäglichkeit, als wären nie die Verbrechen der Nazis gewesen. Nur ihm begegnet die Vergangenheit: „… am Rande der Tafel hing eine Anzeige“, seine Schwester sucht nach ihrem Mann. Er schreibt den Brief, mit dem der Roman beginnt. Aber der kommt am Ende als „nicht zustellbar“ zurück. Die Vergangenheit ist nicht abzuschließen; sie war es 1952 nicht und sie ist es heute nicht.

Lenz nutzte geschickt eine Möglichkeit, um die Schrecken des Krieges mit den Schönheiten des Lebens, besonders der Natur, zu kontrastieren: Er verschränkte Elemente der Spannungsliteratur, des Kriminalromans für die Beschreibung von Angst, Schrecken und Tod, teils bis zur Kolportage getrieben, mit der epischen Breite atmosphärischer Beschreibungen, wie sie von realistischen Romanciers des 19. Jahrhunderts gepflegt wurden. So findet Proska eine überschwänglich beschriebene schöne Landschaft vor. Aber in dieser Schönheit lauert der Tod. Der Stützpunkt, „die Festung hieß ‚Waldesruh‘“ ist eine insulare Welt; ein weiterer Gegensatz entsteht: Fast wie ein Wunder und neben der Kriegsrealität spielt sich eine Liebesgeschichte ab, die mythische Züge bekommt. Wanda trägt nicht nur die Urne ihres Bruders mit sich, die sich als Aufbewahrungsbehälter von Dynamitpatronen herausstellt – Wanda erscheint wie eine moderne Pandora –, sondern sie wird in überhöhter Figuration mit „rotem Haar“ und „grünblauen Augen“ beschrieben und bekommt damit Attribute, wie sie Hexen, Nymphen oder Göttinnen besitzen. Das Verhältnis zwischen dieser überhöhten Gestalt, die als Partisanin auch Proskas Gegnerin ist, und dem um sein Leben bangenden und kämpfenden Soldaten wird zu einer Parabel für die Möglichkeit und Wirklichkeit des Lebens, sogar sprachlich wird sie pathetisch abgehoben, die beschreibende Prosa geht, einen Liebesakt gestaltend, in lyrische Versatzstücke über. Wenn Wanda, deren Bruder Proska als Gegner erschossen hat, ein Kind von Proska erwartet, verwandte Lenz das gleiche Stafettenprinzip der Wiederkehr des Lebens wie Anna Seghers in ihrem Roman „Die Toten bleiben jung“. Das als „Lovestory“, die „sentimental“, „sogar schmalzig“ sei, abzutun (Ulf Heise, „Freie  Presse“ vom 10.3.) ist bösartig oder verständnislos, in jedem Fall aber geschmacklos. An die Seghers erinnert auch anderes bei Lenz, so wenn er Personifizierungen vornimmt wie „Der junge Vormittag saß ahnungslos über dem Sumpf, mit vergnügter Torheit rieb er die Landschaft heiter“. Eine Parallele findet sich in der Eröffnung der Seghers-Erzählung „Aufstand der Fischer von St. Barbara“, in der der Aufstand auf dem Marktplatz saß und „ruhig an die Seinigen“ dachte.

Ein anderes Gestaltungelement ist ebenfalls überzeugend: Lenz baut die Gesamthandlung in eine Rahmenhandlung ein, die mit dem Probanden Proska beginnt, ihn also am Leben sieht und so von Beginn an das Interesse auf dieses Überleben in aussichtsloser Situation richtet. Proska trägt Züge seines Schöpfers, der wurde 1926 in Lyck geboren und auch er desertierte kurz vor Kriegsende. Im Roman selbst wird der Gegensatz von Leben und Tod nochmals ins Bild gebracht durch den dauernden Kampf zwischen dem Oberschlesier Jan Zwiczosbiren und einem riesigen Hecht, der eine ähnliche Bedeutung bekommt wie Hemingways Erzählung „Der alte Mann und das Meer“, die fast gleichzeitig entstand. Lenz‘ Erzähltechnik hat zudem eine Hemingway vergleichbare Qualität. In der Binnenhandlung wird ein weiterer Rahmen gebaut, denn die Handlung beginnt mit einem Zug, der in die Luft gesprengt wird, und kurz vor dem Ende bringt ein Zug Kriegsgefangene zurück, darunter Zwiczosbirski.

Leser aus der DDR kennen solche Themen, ob aus „Die Toten bleiben jung“ oder Gedichten Erich Weinerts, ob aus Dokumentationen zum „Nationalkomitee Freies Deutschland“, von dem Überläufer dringend erwünscht wurden, oder oft zitierten Einzelschicksalen. Die Front­einsätze der Schriftsteller Willi Bredel und Erich Weinert waren hinlänglich bekannt, in denen sie an vorderster Front zum Überlaufen aufgerufen hatten. Aufregungen wie über Alfred Anderschs „Die Kirschen der Freiheit“ hat es nie gegeben; denn Überläufer waren in der DDR anerkannte Gegner des faschistischen Krieges. In der Bundesrepublik wurde erst 1998 begonnen, die Deserteure des Zweiten Weltkrieges zu rehabilitieren. Es dauerte bis 2002, ehe sich diese Haltung offiziell durchgesetzt hatte, ohne dass sie zum Bestandteil der Tagespolitik geworden ist.

Lenz‘ Roman ist tatsächlich eine Sensation: Einmal wegen des Themas, obwohl man das durch die DDR-Literatur hätte kennen können, aber vor allem wegen des Schicksals, denn der Roman wurde nach seiner Beendigung 1951 vom Verlag Hoffmann und Campe nicht gedruckt. Man folgte einer Selbstzensur, die keine staatliche Auflage benötigte, sondern das gesellschaftliche Tabu, mit dem der Faschismus belegt wurde, verinnerlicht hatte. Mit seinem Thema des Überläufers – Lenz hatte sich zu diesem Titel nach einer ersten Überlegung „… da gibt‘s ein Wiedersehen“ entschlossen – hatte er gegen diese praktizierte Übereinkunft verstoßen; er wusste, dass er keine Chance mit der Wahrheit hatte. Die Erstausgabe liefert dieses Wissen nach mehr als 60 Jahren mit und dokumentiert es. Es ging nicht nur um den aufbrechenden Kalten Krieg, wenn der Roman in der zweiten, gründlicheren Fassung, die jetzt vorliegt, mit scharfen Worten vom Lektor Otto Görner zurückgewiesen wurde, sondern es ging auch um die Aufrechterhaltung des Ehrbewusstseins der Wehrmacht und der Nazis, die stolz auf ihre Taten waren und die in der jungen Bundesrepublik überall wieder am Wirken waren.

Es ist ein bezeichnender Vorgang, der verdeutlicht, wie in der alten Bundesrepublik eine ebenso wirksame Zensur herrschte wie man sie der DDR gern unterstellt. Nur es war noch schlimmer: Diese Zensur war eine Selbstzensur in vorauseilendem Gehorsam. Während sich DDR-Verleger und -Lektoren oft selbstlos vor die Werke stellten und dabei manches erreichten – es ließen sich Dutzende Beispiele aufzählen –, wussten die westdeutschen Lektoren und Verlage ziemlich genau, was man von ihnen erwartete, und viele hielten sich daran, ohne dass ein einziges Machtwort gesprochen werden musste. Die damalige Verurteilung des Romans wird weitergeführt, wenn eine aktuelle Kritik des Lenz-Romans überschrieben wird „Kitsch und schiefe Bilder“ (Ulf Heise) und mit solchem Titel mehr Skandal als objektive Kritik ist.

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Über den Autor

Rüdiger Bernhardt (Jahrgang 1940). Nach dem Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Skandinavistik und Theaterwissenschaft (Prof. Dr. sc. phil.) tätig an Universitäten des In- und Auslandes und in Kulturbereichen, so als Vorsitzender der ZAG schreibender Arbeiter in der DDR, als Vorsitzender der Gerhart-Hauptmann-Stiftung (1994-2008) und in Vorständen literarischer Gesellschaften. Verfasser von mehr als 100 Büchern, Mitglied der Leibniz-Sozietät, Vogtländischer Literaturpreis 2018.

Er schreibt für die UZ und die Marxistischen Blätter Literaturkritiken, Essays und Feuilletons zur Literatur.

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"Ein Dokument der Zensur", UZ vom 18. März 2016



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